Das Adlergift-Mysterium

Weißkopfseeadler auf einem kahlen Ast, im Hintergrund Nebel und Tannen
Foto RAY HENNESSY/UNSPLASH

Der giftige Naturstoff Aetokthonotoxin ist für ein massives Artensterben von Greifvögeln verantwortlich. Die erfolgreiche Reproduktion der Substanz erlaubt nun eine weitere Erforschung.

14.07.2021 · Lebenswissenschaften · Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie · News · Forschungsergebnis

Die Entdeckung des giftigen Naturstoffes Aetokthonotoxin (AETX) erregte im März 2021 große mediale Aufmerksamkeit. In der in Science veröffentlichen Studie bewiesen Pharmazeuten der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), dass die Substanz für ein massives Artensterben von amerikanischen Weißkopfseeadlern und anderen Greifvögeln verantwortlich ist. Nun haben die Naturstoffchemiker des Leibniz-Instituts für Pflanzenbiochemie (IPB) die erste Totalsynthese von Aetokthonotoxin entwickelt. Damit kann das neuartige Nervengift in ausreichenden Mengen hergestellt werden, um seine biologische Aktivität und auch die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit genauer zu untersuchen.

Aetokthonotoxin ist ein Alkaloid mit mehreren strukturellen Besonderheiten, die selbst für die mitunter sehr komplexen Naturstoffe eine Seltenheit darstellen. Die Substanz besteht aus mehreren Ringstrukturen, an die fünf Brom-Atome gekoppelt sind. „Derart komplizierte Verbindungen im Reagenzglas zu erzeugen, ist für Synthesechemiker eine große Herausforderung“, sagt der Leiter der Studie, Professor Bernhard Westermann. Im Falle von AETX konnten aber alle Hürden erfolgreich gemeistert werden. Die Synthese des Giftstoffes umfasst dennoch nur fünf Reaktionsschritte. Das spricht für das gute Design, das die beteiligten Wissenschaftler von IPB und MLU entworfen haben.

Alkaloide bilden eine Gruppe von sekundären Pflanzenstoffen von großer struktureller Vielfalt. Sie bestehen oft aus mehreren Kohlenstoffringen, die mindestens ein Stickstoff-Atom enthalten. Die meisten Alkaloide sind giftig und schmecken ausgesprochen bitter. Viele der alkaloidführenden Pflanzen wie Tollkirsche, Schlafmohn, Arnika und Ka­mille werden seit tausenden Jahren als Heilpflanzen genutzt. Der Namenspatron der Alkaloide stammt übrigens aus Halle: Es war der Inhaber der Löwenapotheke Carl Friedrich Wilhelm Meißner, der 1819 den Begriff der Alkaloide prägte.

Am IPB forscht man seit seiner Gründung 1958 intensiv an Synthesen und Biosynthesen von bedeutsamen Alkaloid-Wirkstoffen wie Morphin, Kokain und Mutterkornalkaloiden. Gründungsdirektor und Leopoldinapräsident Kurt Mothes holte seinerzeit Wissenschaftler aus aller Welt nach Halle, um diese interessante Stoffgruppe angemessen zu diskutieren. Die Internationalen Arbeitstagungen für Biochemie und Physiologie der Alkaloide wurden auf seine Initiative 1960, 1964 und 1969 in der Saalestadt durchgeführt. Die IPB-Naturstoffchemiker zementieren mit der AETX-Synthese die historischen Pfade der Alkaloidforschung am Institut. Die synthetische Herstellung des Wirkstoffes eröffnet jetzt weitere Möglichkeiten in Richtung Anwendung. Denn: Der Grat vom Gift zum Medikament ist oft ein schmaler. Durch chemische Modifikationen können AETX-Verbindungen mit wünschenswerten pharmakologischen Eigenschaften produziert werden.

AETX wird vom Cyanobakterium Aekthonos hydrillicola produziert, das auf den Blättern der in Nordamerika invasiv wachsenden Süßwasserpflanze Hydrilla verticillata lebt. Das Toxin durchläuft die Nahrungskette, beginnend bei Pflanzenfressern, wie Schnecken und Wasservögeln, bis hin zu Raubvögeln, wie Adler und Milane. Beim Weißkopfseeadler löst die Substanz eine bisher unbekannte neurodegenerative und tödliche Erkrankung aus: die Vakuoläre Myelinopathie. Die Krankheit ist durch einen Abbau der isolierenden Myelinschichten um die Nervenfasern von Gehirn und Rückenmark gekennzeichnet. Ob das Gift auch Säugetieren schadet, ist bisher nicht bekannt.

Publikation

Manuel G. Ricardo, Markus Schwark, Dayma Llanes, Timo H. J. Niedermeyer & Bernhard Westermann. Total Synthesis of Aetokthonotoxin, the Cyanobacterial Neurotoxin Causing Vacuolar Myelinopathy. Chemistry, A European Journal.

Weitere Informationen und Kontakt

www.ipb-halle.de