
Zäsuren der Zeitgeschichte

Im Gespräch mit Andreas Wirsching beleuchten die prominenten Zeitzeugen Theo Waigel und Wolfgang Thierse das Jahr der Wende.
01.11.2019 · Geisteswissenschaften und Bildungsforschung · Institut für Zeitgeschichte München - Berlin · HP-Topnews · Gemeinschaft
Leibniz debattiert: Zäsuren der Zeitgeschichte – das Jahr 1989
Kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls lädt „Leibniz debattiert“ den ehemaligen Bundespräsidenten Wolfgang Thierse und den ehemaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel zu einem Zeitzeugengespräch ins Haus der Leibniz-Gemeinschaft ein. Zusammen mit Moderator Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin, beleuchten sie das „Jahr der Wunder“ 1989, sprechen über Schlüsselereignisse und den Minderwertigkeitskomplex der Ostdeutschen.
Es gibt Tage, die im Gedächtnis bleiben. Tage, über die wir – selbst Jahrzehnte später – detailliert schildern können, wo wir waren und was wir taten. Der 9. November 1989 ist für viele Deutsche ein solcher Tag. Wo der DDR-Bürger und spätere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse an dem Tag war, möchte auch Wirsching wissen.
„Mich ärgert die Frage zunehmend“, antwortet Thierse. „Aus einem politischen Grund: Weil durch das ständige Insistieren auf den 9. November die friedliche Revolution – das, was davor stattfand – gewissermaßen zur Vorgeschichte des Mauerfalls degradiert wird. Das finde ich falsch.“ Unvergesslich für ihn war dann vor allem, als er und seine Familie einige Tage später nach West-Berlin fuhren. „Man wurde in West-Berlin empfangen von wildfremden Leuten, die einen umarmt haben mit Sekt! So schön war West-Berlin nie wieder, und so leer war Ost-Berlin nie wieder.“
Der Gedanke an eine Wiedereinigung formte sich erst langsam. „Unser Thema war: Wie ändern wir die DDR? Wie machen wir aus ihr eine Demokratie?“, erinnert sich Thierse. Erst im Laufe des Novembers 1989 habe sich die Stimmungslage geändert. „All das, was wir wollen – Freiheit, Grundrechte, Demokratie, Reisen können, Wohlstand – all das gibt es ja, und zwar neben an im anderen Teil Deutschlands. Warum sollten wir noch einmal die DDR verlängern?“
Gorbatschow, Leipzig und Bush – Entscheidende Treiber der Wiedervereinigung
Für den damaligen Bundesfinanzminister und CSU-Vorsitzenden Theo Waigel liegt der Schlüssel für die Wiedervereinigung in erster Linie in Moskau – mit Gorbatschow. „Eine Jahrhundertgestalt“, nennt ihn Theo Waigel. „Ihm sind wir zu unendlichem Dank verpflichtet.“ Thierse stimmt zu und ergänzt: „Wenn Gorbatschow mit seinen Reformen in der Sowjetunion erfolgreich gewesen wäre, welchen Grund hätte er gehabt, die DDR freizugeben?“ Aber das Scheitern der Reformpolitik in der Sowjetunion habe zur friedlichen Revolution beigetragen.
Ebenfalls bedeutend waren Waigel zufolge die Protestaktionen in der DDR. Über 70.000 Menschen demonstrierten in Leipzig im Oktober 1989 für Freiheit und Demokratie – die Regierung ließ sie gewähren. Viele sahen dies als Zeichen für den kommenden Aufbruch. Die dritte Stütze nennt Waigel den US-Präsidenten George H. W. Bush, „der in der Zeit unbeirrt an unserer Seite stand und uns unterstützte. Das galt nicht für Francois Mitterand und Margaret Thatcher.“
Thierse zählt weitere wichtige Persönlichkeiten und Entwicklungen auf, von der Entspannungspolitik, von sowjetischen Dissidenten bis hin zum Papst Johannes Paul II. „Das Jahr 1989 ist ein Jahr der Wunder, aber auch Wunder haben Vorgeschichten“, betont er.
Solidarpaket, Görlitz und die „blühenden Landschaften“ – Erfolge und Enttäuschungen
Freiheit für alle Menschen, eine stabile Demokratie und „die größte Solidaraktion der letzten paar hundert Jahren in der deutschen Geschichte“ mit etwa 2,5 Billionen Euro – das sind unter anderem für Waigel wichtige Errungenschaften der letzten 30 Jahre. Thierse ergänzt: Nach den dramatischen Einbrüchen der 90er Jahren ist Ostdeutschland aus dem tiefen Tal raus. „In Ostdeutschland ist die Infrastruktur eine vollkommen andere als vor 30 Jahren. Wer das nicht sieht, den schicke ich nach Görlitz – das ist die östlichste und schönste deutsche Stadt.“
Thierse ärgert, dass viele Ostdeutsche unfähig seien, die positiven Entwicklungen und Errungenschaften nüchtern anzuerkennen. Die Ostdeutschen trügen einen Rucksack mit Minderwertigkeitskomplex. „Wir haben im Osten Deutschlands immer mit dem Blick nach Westen gelebt, uns immer mit dem Westen verglichen und empfunden: Wir sind der schwächere Teil Deutschlands. (…) Deswegen ist meine Empfehlung, guck auch mal nach Osten, nach Polen, Russland, Tschechien. Das relativiert wenigstens ein bisschen diesen Maßstab“, so Thierse.
Einen Grund für die bittere Enttäuschung der Ostdeutschen sieht er auch in der „patriarchalischen Prägung“ von Helmut Kohl. „‘Ich nehme euch an die Hand und führe euch ins Wirtschaftswunderland, es wird vielen besser gehen und niemandem schlechter‘ (…) Natürlich hat das Erwartungen in Ostdeutschland erzeugt." Viele Ostdeutsche wollten Kohl glauben und so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundesrepublik Deutschland. Doch je höher die Erwartungen und der Glauben, desto größer die nachfolgenden Enttäuschungen.
„Die Kommunikationsstrategie der Regierung war 1990 doch zu optimistisch“, stellt Wirsching fest. Waigel gibt zu: „Wir haben damals vielleicht einen Fehler gemacht. Wir haben den Zustand der DDR-Volkswirtschaft nicht genügend kommuniziert.“ Er ergänzt, dass der Westen damals über die faktische Leistungsfähigkeit der DDR zu wenig gewusst – und diese zum Teil überschätzt habe.
Treuhandanstalt, außenpolitische Reaktion und weitere Themen
Knapp 200 Menschen sind an dem Abend, der auch das 70-jährige Bestehen des Instituts für Zeitgeschichte feiern soll, ins Atrium im Haus der Leibniz-Gemeinschaft gekommen. Sie hören zu, wie Thierse, Waigel und Wirsching das Jahr 1989 beleuchten, die außenpolitische Lage skizzieren, die umstrittene Treuhandanstalt diskutieren, mit Legenden – beispielsweise, dass der Euro der Preis für die Wiedervereinigung gewesen sei – aufräumen und ihre Ansicht zu Putin erläutern. Viele von den Zuschauern sind selbst Zeitzeugen. Sie bringen ihre eigenen Erlebnisse, ihre eigene Sicht auf die friedliche Revolution mit. So wird „Leibniz debattiert“ an diesem Abend zu einem Ort des Austausches – nicht nur über wissenschaftlich-historische Fakten, sondern auch über persönliche Lebensgeschichten.
Zur Fotogalerie