Kurzfristiger Mangel, lebenslange Folgen
Kriegserfahrungen können das Essverhalten über Generationen hinweg prägen. Besonders Frauen überkompensieren erlittene Entbehrungen – mit gesundheitlichen Auswirkungen.
08.04.2024 · News · ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung · Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwissenschaften · Forschungsergebnis
Kriegskinder, insbesondere Frauen, überkompensieren den Mangel an Fleisch während des Zweiten Weltkriegs in Europa für den Rest ihres Lebens. Sie essen nicht nur häufiger täglich Fleisch und geben mehr Geld für Lebensmittel aus, sondern erleiden auch häufiger Folgeerkrankungen wie Übergewicht oder Krebs als Menschen, die nicht von Fleischknappheit betroffen waren. Das haben Forscherinnen von ZEW Mannheim, Erasmus-Universität Rotterdam und Global Labor Organization in einer Studie herausgefunden, in der sie Daten von rund 13.000 Menschen in Italien ausgewertet haben. Hierbei wurden Essgewohnheiten, Body-Mass-Index und andere Gesundheitsdaten aus dem späteren Leben der Menschen untersucht.
„Gerade bei Frauen zeigen sich lebenslange Auswirkungen, sie konsumieren mehr Fleisch, wenn sie vom Fleischmangel betroffen waren. Und nicht nur die Kriegsgeneration selbst versucht den erlittenen Mangel auszugleichen – ihre Kinder übernehmen das Verhalten der Eltern. Auch ein kurzfristiger Mangel in der Kindheit hat also einen großen Einfluss auf Lebensstil und Gesundheit gleich mehrerer Generationen“, erläutert Ko-Autorin Effrosyni Adamopoulou, PhD, Wissenschaftlerin in der ZEW-Forschungsgruppe „Ungleichheit und Verteilungspolitik“.
Hunger während Krieg weit verbreitet
Während des Krieges war Hunger in Familien aller sozio-ökonomischen Schichten Italiens weit verbreitet. Dies war zum Teil darauf zurückzuführen, dass zur Deckung des Nahrungsbedarfs der einmarschierten Armeen viele Nutztiere geschlachtet wurden und das Fleischangebot damit erheblich zurückging. Die Tatsache, dass der durchschnittliche Pro-Kopf-Fleischkonsum bis 1947 in fast allen Regionen Italiens wieder das Vorkriegsniveau erreicht hatte, zeigt allerdings, dass der Krieg nur kurzfristige Fleischknappheit verursachte.
Söhne zu Kriegszeiten bevorzugt – Mädchen tragen Folgen
Zwar wirkte sich der Fleischmangel im zweiten Weltkrieg signifikant auf alle Betroffenen und insbesondere die Kriegskinder aus. Beim Verteilen der knappen Güter wurden jedoch Söhne gegenüber Töchtern offenbar bevorzugt. So stellen die Forscherinnen fest, dass zwischen den Jahren 1942 und 1944 bei zweijährigen Kindern die Mädchen im Durchschnitt stärker an Gewicht verloren als die Jungen. Der Unterschied ist bei Arbeiterkindern noch größer: In ländlichen Gebieten lag der durchschnittliche Gewichtsverlust von Arbeiterkindern 1942 bis 1944 bei vier Prozent für Mädchen und nur 1,4 Prozent für Jungen.
Da die späteren Frauen den Mangel stärker erlebten, gibt es bei ihnen auch häufiger gesundheitliche Folgen der Überkompensation. „Frauen, die in ihrer Kindheit größeren Fleischmangel erlebt haben, neigen zu einem höheren BMI und haben eine größere Wahrscheinlichkeit, später im Leben übergewichtig zu sein“, erläutert Adamopoulou. „Für diese Frauen ist auch wahrscheinlicher, dass sie ihre eigene Gesundheit als schlecht empfinden und an Krebs erkranken – das deckt sich mit medizinischen Erkenntnissen, die den Verzehr von rotem und verarbeitetem Fleisch mit Übergewicht und einem höheren Krebsrisiko in Verbindung bringen.“
Die Untersuchung beruht auf Daten des italienischen Nationalen Instituts für Statistik (ISTAT), darunter Archiv-Daten zum Nutztierbestand der Kriegsjahre sowie historische Schlachtzahlen zusammen mit umfangreichen Umfragedaten zu Essgewohnheiten und gesundheitlichen Auswirkungen auf individueller Ebene. Vermögens- und Einkommens-Daten der Haushalte erlauben zusätzlich Rückschlüsse zu Effekten auf Lebensmittelausgaben.
Studie
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Pressemitteilung des ZEW – Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung