
Gen für Gebrechlichkeit

Ein neuer Biomarker könnte helfen, ältere Herzpatienten frühzeitig vor Muskelschwäche zu schützen.
12.06.2025 · HP-Topnews · Deutsches Institut für Ernährungsforschung · Lebenswissenschaften · Forschungsergebnis
Gebrechlichkeit ist ein relevantes Syndrom im höheren Alter und hat insbesondere bei Herzerkrankungen eine erhebliche klinische Bedeutung. Ein interdisziplinäres Forschungsteam unter Leitung vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE), der Fakultät für Gesundheitswissenschaften (FGW) an der Universität Potsdam und dem Deutschen Herzzentrum der Charité hat nun in der Muskulatur älterer Herzpatient*innen das Gen S100A1 als potenziellen Biomarker und therapeutisches Ziel identifiziert, um dem Mobilitätsverlust und der Muskelschwäche frühzeitig entgegenwirken zu können. Die Ergebnisse wurden im Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle veröffentlicht.
Gebrechlichkeit, auch als Frailty-Syndrom bezeichnet, stellt ein zunehmendes Problem in der alternden Bevölkerung dar. Das Syndrom ist durch eine erhöhte Anfälligkeit für Stürze, Krankenhausaufenthalte, Komplikationen nach Operationen und eine allgemeine Verschlechterung der körperlichen Funktionsfähigkeit gekennzeichnet.
Als entscheidender Faktor für die Gebrechlichkeit älterer Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt die eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit. Um die gesundheitlichen und funktionellen Behandlungsergebnisse dieser Patientengruppe gezielt zu optimieren, ist ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden biologischen Mechanismen unerlässlich.
Ziel der Studie war es daher, das Genexpressionsmuster verschiedener Ausprägungen (Phänotypen) körperlicher Gebrechlichkeit bei Älteren zu identifizieren, die sich einem herzchirurgischen Eingriff unterziehen mussten.
Kooperativer Forschungsansatz
Unter der gemeinsamen Studienleitung von PD Dr. Heike Vogel vom DIfE und PD Dr. Annett Salzwedel und Prof. Dr. Heinz Völler von der FGW an der Universität Potsdam und in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Herzzentrum der Charité (PD Dr. Simon Sündermann) und weiteren Partnerinstitutionen wurden insgesamt 63 Patient*innen über 70 Jahre untersucht, die aufgrund einer Herzoperation oder einer Transkatheter-Aortenklappenimplantation (TAVI) hospitalisiert waren. Vor den Eingriffen untersuchten die Forschenden die Patient*innen für drei Frailty-Phänotypen: Ganggeschwindigkeit, Handgreifkraft und allgemeine Mobilität.
Während der chirurgischen Eingriffe am Herzen wurden Gewebeproben aus dem Oberschenkelmuskel entnommen, um eine umfassende Genexpressionsanalyse durchzuführen und mittels bioinformatischer Auswertungen die molekularen Veränderungen in der Skelettmuskulatur zu erfassen.
Die Wissenschaftler*innen nutzten zudem einerseits Daten einer separaten Kohorte älterer, gesunder Personen und andererseits Untersuchungen im Zellkultur- und Tiermodell, um die ermittelten Ergebnisse zu validieren.
Schlüsselgen S100A1 im Fokus
Anhand der Genexpressionsanalysen identifizierte das Forscherteam zehn Gene, deren veränderte Expression mit allen drei Frailty-Phänotypen in Verbindung stand. Besonders auffällig war das Gen S100A1, das eine wichtige Rolle bei der Funktion der Skelett- und Herzmuskulatur spielt. Patient*innen mit niedriger Muskelkraft und verlangsamter Bewegung zeigten eine signifikant verminderte S100A1-Expression in den Muskelproben. Parallel dazu zeigte die Validierungskohorte, dass höhere S100A1-Blutwerte mit einer besseren Handgreifkraft korrelierten.
Auch ein funktioneller Zusammenhang konnte nachgewiesen werden. So bestätigten die Experimente in Muskelzellen, dass eine reduzierte S100A1-Expression zu einer gestörten Muskelentwicklung führt. Die verwendeten Mausmodelle zeigten zudem, dass genetisch bedingte höhere S100A1-Werte mit einer erhöhten Muskelmasse korrelieren und dass regelmäßiges Training die Genexpression zusätzlich verstärkt.
Erhalt der Mobilität und Lebensqualität im Alter
„Zum ersten Mal konnten wir zeigen, dass eine verringerte Genexpression von S100A1 in der Muskulatur mit Frailty-Phänotypen korreliert“, so Omar Baritello, Doktorand an der FGW. Studienleiterin Heike Vogel interpretiert das Studienergebnis wie folgt: „Wir gehen davon aus, dass S100A1 eine zentrale Rolle bei der Regulation der Muskelgesundheit spielt und damit als Schlüssel zur Prävention von Gebrechlichkeit dienen könnte“. Die gewonnenen Erkenntnisse über die molekularen Mechanismen der altersbedingten Gebrechlichkeit legen nahe, dass S100A1 ein potentieller Biomarker für das Gebrechlichkeitsrisiko von älteren Menschen sein könnte. Zusätzlich bietet sich S100A1- als therapeutisches Ziel an, um die Muskelkraft und Mobilität bei älteren Patient*innen mit Herzerkrankungen frühzeitig zu verbessern.
Zukünftige Forschungsarbeiten werden sich darauf konzentrieren, S100A1 als klinischen Marker zu validieren und seine therapeutische Nutzbarkeit zu untersuchen. Dies beinhaltet die Entwicklung von Diagnostika, die den S100A1-Spiegel messen können, sowie die Erforschung von Strategien zur Modulation der S100A1-Expression, beispielsweise durch gezieltes Muskeltraining oder pharmakologische Interventionen. "Die Studie bringt uns dem Ziel näher, Gebrechlichkeit nicht nur besser zu verstehen, sondern sie frühzeitig zu erkennen und ihr aktiv entgegenzuwirken – und damit die Lebensqualität und Sicherheit älterer Menschen zu verbessern“, so Vogel.
Originalpublikation
Baritello, O., Sündermann, S. H., Espinosa-Garnica, K., Kempfert, J., Jähnert, M., Beetz, N. L., Geisel, D., Gaugel, J., Rominger, J., Müller-Werdan, U., Herpich, C., Norman, K., Chadt, A., Al-Hasani, H., Völler, H., Salzwedel, A., Vogel, H.: Transcriptomic Signature of Frailty in Older Patients With Cardiovascular Disease Undergoing Cardiac Surgery or TAVI. J Cachexia Sarcopenia Muscle 16(3):e13846 (2025).
Weitere Informationen und Kontakt
Pressemitteilung des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE)