(Nicht-)Wählen bei akutem Geldmangel

Deutscher Wahlzettel, die Spalte „Hier ankreuzen“ ist nicht ausgefüllt
Foto MIKA BAUMEISTER/UNSPLASH

Wenn an Wahltagen das Geld kurzfristig knapp wird, gehen arme Menschen seltener wählen. Die Gründe hierfür sind Stress und eine verschärfte Wahrnehmung von Ungleichheit.

19.07.2021 · Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwissenschaften · Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung · News · Forschungsergebnis

Kurzfristige finanzielle Engpässe halten arme Menschen in Deutschland davon ab, wählen zu gehen und politisch zu partizipieren. Das ist das Ergebnis einer Studie von Max Schaub, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), die in der American Political Science Review erschienen ist. Bei der von Armut bedrohten Bevölkerung sind die beabsichtigte wie die tatsächliche Wahlbeteiligung um 5 Prozentpunkte reduziert, wenn Wahltage mit Zeiten finanzieller Not zusammenfallen.

Armut beeinträchtigt politische Teilhabe, wie wissenschaftliche Studien zeigen. Max Schaub hat nun erstmals den Einfluss kurzfristiger finanzieller Notlagen auf die politische Beteiligung untersucht – Situationen, häufig nur einige Tage lang, in denen das Geld knapp ist und nicht mehr für Lebensnotwendiges ausreicht. Diese Notlagen erfahren vor allem Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. In Deutschland sind das ca. 16 Prozent der Bevölkerung: Arbeitslose, Rentner mit kleinen Renten und Alleinerziehende. Deren monatliches Budget ist häufig bis auf den letzten Euro verplant, sodass unerwartete Ausgaben sie sofort in finanzielle Schwierigkeiten stürzen.

Solche finanziellen Engpässe gehen an Wahltagen mit einer stark reduzierten politischen Beteiligung einher, wie der Autor herausgefunden hat. So sinkt die beabsichtigte Wahlbeteiligung bei der von Armut bedrohten Bevölkerung um 5 Prozentpunkte. In absoluten Zahlen ausgedrückt, bedeutet dies bei Bundestagswahlen 500.000 Wählerstimmen weniger. Die tatsächliche Wahlbeteiligung ist im Mittel ebenfalls um 5 Prozentpunkte reduziert im Vergleich zu Wahlen, die zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem das finanzielle Budget der ärmeren Wähler*innen einigermaßen ausgeglichen ist. Dabei ist der Effekt über die Jahrzehnte konstant und zeigt sich besonders stark bei Kommunal- und Landtagswahlen (-6 %) und etwas weniger stark bei Bundestagswahlen (-4 %).

„Kurzfristige finanzielle Notlagen können Menschen zu Nichtwähler*innen machen“, sagt Max Schaub. Die Gründe hierfür sind Stress und eine akut verschärfte Wahrnehmung von Ungleichheit. Die Entfremdung vom politischen Prozess nimmt den Betroffenen die Motivation, sich zu beteiligen. Um Geld zu sparen, bleibt häufig nur der Rückzug ins Private. Das reduziert die soziale Einbettung, die sonst ein wichtiges Motiv für die politische Beteiligung ist. „Um die demokratische Vertretung aller Bevölkerungsgruppen sicherzustellen, sollte vermieden werden, Wahlen auf Termine zu legen, an denen ein Teil der Bevölkerung regelmäßig vor finanziellen Engpässen steht“, erklärt Max Schaub.

Methode: Für die Studie wurde die Wahlbeteiligung von über 1.000 Wahlen seit 1946 auf der Bundes-, Landes- und der kommunalen Ebene in Deutschland ausgewertet. Die Studie kombiniert zudem die Auswertung von Daten aus großangelegten Umfragen wie der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) und dem Deutschlandtrend des Wahlforschungsinstituts Infratest dimap mit ausführlichen Interviews Betroffener. Um die Folgen von kurzzeitigen finanziellen Schwierigkeiten zu bestimmen, nutzt die Studie die Besonderheiten deutscher Zahlungskonventionen aus. Überweisungen von Gehalt, Rente und Arbeitslosengeld finden zumeist am Ende des Monats statt, aber auch viele wichtige Zahlungen müssen zum Monatsende beglichen werden. Da Banken am Wochenende keine Transfers ausführen, müssen diese Zahlungen in Monaten, in denen der letzte Tag auf ein Wochenende fällt — wie z.B. im Juli 2021, in dem der 31. auf einen Samstag fällt — früher erfolgen als in Monaten, in denen der letzte Tag auf einen Wochentag fällt. Im „kurzen“ Juli muss das gleiche Einkommen für eine geringere Anzahl von Tagen ausreichen als im „langen“ August: 30 Tage vom 1.7. bis 30.7. im Gegensatz zu 32 Tagen vom 31.7. bis 31.8. Wie die Studie zeigt, stellen diese zusätzlichen Tage die von Armut Betroffenen vor ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten – mit negativen Folgen für die politische Beteiligung.

Publikation

Die Studie „Acute Financial Hardship and Voter Turnout: Theory and Evidence from the Sequence of Bank Working Days“ ist als Open Access erschienen in: American Political Science Review (2021), First View, pp. 1-17. DOI:10.1017/S0003055421000551

Weitere Informationen und Kontakt

www.wzb.eu