Autofrei im suburbanen Raum
Das Beispiel eines Berliner Vorortes zeigt: Außerhalb der Großstadt werden weiterhin viele Wege mit dem PKW zurückgelegt. Eine Trendwende setzt die soziale Anerkennung autofreier Alternativen voraus.
28.01.2022 · News · Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung · Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwissenschaften · Forschungsergebnis
Eine der größten Herausforderungen in der deutschen Hauptstadtregion bleibt die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs. Die Corona-Zeit hat das Problem in den vergangenen Monaten erkennbar verschärft. Das gilt auch für die südöstlich an Berlin angrenzende Gerhart-Hauptmann-Stadt Erkner. Wo liegen zurzeit die Herausforderungen und welche notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit im Bereich Verkehr und Logistik sind für Politik und Planung im suburbanen Raum von Bedeutung? Hierzu forscht das in Erkner ansässige und international vernetzte Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) auch vor der eigenen Haustür.
Überdurchschnittlich hoher privater Fahrzeugbestand in Erkner
Eine von den IRS-Forschern Ralph Richter und Paul Witte Ende Januar veröffentlichte Studie trägt den Titel „‘Ohne Auto geht nix‘? Eine Untersuchung zur Mobilitäts- und Logistikwende im suburbanen Raum“. Die Studie ist auf der IRS-Website kostenfrei abrufbar und basiert auf repräsentativen Haushaltsbefragungen, auf Experteninterviews und auf einem Vergleich mit dem Mierendorff-Kiez in Berlin-Charlottenburg.
Der Soziologe Ralph Richter meint: „Das Verkehrs- und Logistikverhalten in Erkner ist sehr stark von Automobilität geprägt. Auch konnten wir hier eine intensive Haustür-zustellung von Paketen beobachten. Viele Wege werden in Erkner mit dem privaten Auto zurückgelegt. Dagegen nutzen die Erkneraner umweltfreundliche Alternativen wie Bus und Bahn, Fahrrad- und Fußverkehr deutlich weniger als zum Beispiel die Charlottenburger in Berlin.“
Im deutschlandweiten Vergleich, so Richter, schneide Erkner beim Anteil umweltfreundlicher Verkehrsmittel zwar besser ab. Doch ein überdurchschnittlicher privater Fahrzeugbestand verweise auf die hohe Bedeutung der Automobilität. Daran hätten vor allem zwei Gruppen einen wesentlichen Anteil: Familien mit Kindern und Ältere aus der Generation der Baby-Boomer und der 68er. Für eine zeiteffiziente Lebensführung gelte gerade jungen Familien die Nutzung des Autos als unerlässlich. Die Älteren wiederum würden das eigene Auto als Garant mobiler Unabhängigkeit und als Ausdruck des erarbeiteten Wohlstands schätzen.
Paketlieferdienste würden vor allem in Ein- und Zweifamilienhausgebieten stark in Anspruch genommen. „Interessanterweise ist die Haustürzustellung in Erkner aber ökologisch sinnvoller als in Berlin-Charlottenburg“, erklärt Richter. In Erkner ließe sich nämlich durch Haustürzustellungen eine Vielzahl von Abholfahrten mit dem PKW vermeiden. Rezeptartige Ansätze aus Berlin für eine nachhaltige Stadtlogistik, so ein Fazit der Studie, könne man deshalb nicht einfach auf suburban gelegene Kommunen wie Erkner übertragen.
Doppelt so viele Skeptiker wie in Berlin-Charlottenburg
Grundsätzlich seien die Voraussetzungen für einen Wandel zu nachhaltigen Alternativen in suburbanen Untersuchungsgebieten vergleichsweise schlecht. Am Beispiel von Lastenrädern als Alternative zum Auto und anbieteroffenen Paketstationen als Ersatz für die Haustürzustellung ermittelten die IRS-Forscher für Erkner eine unterdurchschnittliche soziale Akzeptanz und Nutzungsbereitschaft. „Der Anteil der Skeptiker ist in Erkner dop-pelt so hoch wie im urbanen Vergleichsgebiet Berlin-Charlottenburg“, stellt Ralph Richter fest. Einstellungen zum Umweltschutz und zur Verkehrswede würden in Erkner vergleichsweise stark zurückfallen.
Soziale Anerkennung als gesellschaftliche Herkulesaufgabe
Im Verändern eingespielter Verkehrs- und Logistikpraktiken in weniger verdichteten Räumen wie Erkner sieht Richter für die Zukunft eine Herkulesaufgabe. Wichtig sei es, in Alternativen wie sichere Radwege, bessere Abstellmöglichkeiten für Räder und regelmäßigen Busverkehr zu investieren. Die Attraktivität für den Autoverkehr müsse man verringern und auf einen Wandel „in den Köpfen“ hinwirken. Oft fehle es schon an Vorstellungskraft darüber, dass Wege und Besorgungen ebenso gut mit dem Fahrrad oder mit dem Lastenrad erledigt werden könnten. Hier könnten Vorbilder und Persönlichkeiten in Richtung mobiler Nachhaltigkeit unterstützen. Vor allem sei die soziale Anerkennung durch politische und gesellschaftliche Entscheidungsträger und durch das direkte Umfeld vor Ort entscheidend, wie die Studie abschließend zeigt.