Das AfD-Paradox

Briefwahl-Unterlagen
Foto GLENN CARSTENS PETERS/UNSPLASH

Eine neue Studie zeigt: Menschen, die die AfD unterstützen, würden am stärksten unter ihrer Politik leiden.

22.08.2023 · HP-Topnews · DIW Berlin - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung · Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwissenschaften · Forschungsergebnis

Die Unterstützung für die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat sich laut aktuellen Umfragen seit den letzten Bundestagswahlen vor zwei Jahren auf mehr als 20 Prozent verdoppelt. Auf der Agenda der Partei stehen vor allem EU-skeptische und zuwanderungsfeindliche Ziele. Mit Hilfe des von der Bundeszentrale für politische Bildung entwickelten Wahl-O-Mat werden die einzelnen Einstellungen der Partei verglichen mit den Anliegen ihrer Unterstützer*innen. Dabei tritt ein bemerkenswertes Paradox auf: Menschen, die die AfD unterstützen, würden am stärksten unter der AfD-Politik leiden, und zwar in Bezug auf fast jeden Politikbereich: Wirtschaft und Steuern ebenso wie Klimaschutz, soziale Absicherung, Demokratie und Globalisierung. Dieses Paradox scheint mit einer falschen Selbsteinschätzung vieler AfD-Wähler*innen und mit einer Fehleinschätzung der gesellschaftlichen Realität zusammenzuhängen.

Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2013 immer stärker radikalisiert. Angetreten als europakritische Partei verschob sie spätestens 2015 den Fokus auf migrations- und flüchtlingsfeindliche Positionen. Bei der Bundestagswahl 2017 gelang ihr mit einem Stimmenanteil von 12,6 Prozent erstmals der Einzug in den Bundestag. Das Ergebnis fiel zwar bei der folgenden Bundestagswahl mit 10,3 Prozent etwas geringer aus. Doch aktuelle Umfragen mit Zustimmungswerten von mehr als 20 Prozent signalisieren, dass die vom Verfassungsschutz als rechtsradikaler Verdachtsfall eingestufte Partei mit immer extremeren Ansichten ihre Zustimmungsbasis bei den Wähler*innen verbreitern kann. Der Frage, ob die parteipolitischen Inhalte der AfD im Interesse ihrer Wählerschaft sind, will die vorliegende Kurzanalyse auf den Grund gehen, indem sie die sozio-demografischen Merkmale der Wähler*innen mit den Vorhaben der Partei abgleicht.

AfD-Wählerschaft: Häufig männlich, arbeitslos und aus strukturschwachen Regionen

Mit den Lebensverhältnissen der AfD-Unterstützer*innen hat sich eine aktuelle Forsa-Umfrage befasst. Sie bestätigt damit auch ältere Untersuchungen. Demnach ist die AfD-Wählerschaft überdurchschnittlich häufig männlich: Aktuell würden sich 23 Prozent der Männer, aber nur 15 Prozent der Frauen für die AfD entscheiden. Überdurchschnittlich häufig würden mit 24 Prozent Menschen zwischen 45 und 59 Jahren die Partei wählen. Unter Rentner*innen (15 Prozent) und jungen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren (14 Prozent) sind sie eher unterdurchschnittlich vertreten. Ältere Untersuchungen haben gezeigt, dass ihr Einkommen ebenso wie ihre Bildung eher gering bis mittelhoch ist. Arbeiter*innen und Arbeitslose sind unter den Wähler*innen überdurchschnittlich häufig vertreten. Die Unzufriedenheit über das eigene Leben und über den Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft ist unter AfD-Wähler*innen deutlich höher als im Durchschnitt aller Wähler*innen. Und oft haben oder hatten sie eine geringere soziale und auch politische Teilhabe.

Die Zustimmung zur AfD ist vor allem unter Wähler*innen in Ostdeutschland überdurchschnittlich hoch, insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen, die unter Abwanderung leiden und ökonomisch abgehängt zu werden drohen. Dabei zeigen zwei wissenschaftliche Analysen des DIW Berlin, dass die demografischen Faktoren den hohen Stimmenanteil der AfD in Bundestagswahlen und der Europawahl am deutlichsten erklären.info Die AfD schneidet also besser in Wahlkreisen ab, in denen die Perspektivlosigkeit groß ist, die Chancen für junge Menschen gering sind und durch deren Abwanderung wichtige Infrastrukturen für Familien und Kinder – und damit auch für Unternehmen – schlechter werden oder verschwinden. Auch eine größere wirtschaftliche Verletzlichkeit und geringere Diversität von Regionen sind mit einer stärkeren Unterstützung der AfD verbunden.

38 Fragen zur politischen Positionierung

Im nächsten Schritt geht es darum abzugleichen, wie die aus den Umfragen und Studien abgeleiteten Bedürfnisse der AfD-Wähler*innen mit den inhaltlichen Positionen der Partei zusammenpassen. Dazu wird zunächst abgeklärt, welche Inhalte sie verfolgt und wie sie sich von den anderen Parteien im Bundestag unterscheidet. Um diese Fragen zu beantworten, wurde der sogenannte Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) für die Bundestagswahlen 2021 ausgewertet.

Die bpb bietet im Vorfeld von Bundestags-, Europa- und Landtagswahlen einen so genannten Wahl-O-Mat an, mit dem sich die Wahlberechtigten über die verschiedenen Positionen der Parteien informieren können, um eine fundierte Wahlentscheidung zu treffen. Sie entwickelt dabei einen Fragenkatalog zu den relevantesten politischen Themen vor Wahlen und lässt alle Parteien diesen Fragenkatalog beantworten. Die Fragen sind so angelegt, dass eine Aussage zu einer bestimmten politischen Position formuliert wird und die Parteien dann antworten können, ob sie zustimmen, dies ablehnen oder neutral sind – es gibt somit drei Antwortmöglichkeiten. Die Parteien haben zudem die Möglichkeit, eine Begründung für ihre Antwort zu geben. In der folgenden Analyse werden nur die Antworten analysiert, nicht die Begründungen. Bei der Interpretation ist also Vorsicht geboten, denn Parteien können für identische Antworten sehr unterschiedliche Begründungen und Erklärungen haben.

Die 38 Fragen und die Antworten der Parteien zur Bundestagswahl 2021 werden zwischen den sechs Parteien im Bundestag verglichen. Dazu werden die Fragen sieben politischen Kategorien zugeordnet: Steuerpolitik, Wirtschaftspolitik, Klima- und Umweltpolitik, Sozialpolitik, Gesellschaftspolitik, Außenpolitik und Innenpolitik. Jede Frage wird einer oder mehr als einer passenden Kategorie zugeschrieben. Als Alternative – um die Sensitivität der Resultate zu vergleichen – wird jede Frage nur einer, und zwar der am besten passenden Kategorie zugeordnet. Dies zeigt jedoch qualitativ sehr ähnliche Resultate.

In einem zweiten Schritt der Analyse werden die Antworten so kodiert, dass jede innerhalb einer Kategorie mit den anderen Antworten vergleichbar ist. Als Beispiel: Bei der Steuerpolitik bedeutet eine „+1”, dass eine Partei sich für höhere Steuern oder gegen Steuersenkungen ausspricht, eine „-1” steht für das Gegenteil und eine „0“ für eine neutrale Antwort. Die Antworten werden dann für jede Kategorie addiert, so dass es für jede Partei und jede Kategorie einen Gesamtwert gibt, der als Proxy für die Ausrichtung der jeweiligen Partei zu einem Themenbereich steht. Eine höhere positive Zahl für die Sozialpolitik bedeutet beispielsweise, dass eine Partei sich eine Stärkung oder Ausweitung der Sozialsysteme wünscht, eine negative Zahl bedeutet dagegen eine Kürzung oder Begrenzung.

Der Vorteil einer solchen Analyse ist die Transparenz und Vergleichbarkeit über Parteien hinweg. Die Bundeszentrale für politische Bildung ist neutral, hat viel Erfahrung und ihre Auswahl repräsentiert die relevantesten Themen. Da die Parteien selbst die Antworten geben, kann es auch zu keiner falschen Fremdeinschätzung kommen. Die Befragung zur Bundestagswahl 2021 ist zudem die beste Grundlage, um die gegenwärtige Politik der Parteien bestmöglich zu beschreiben, auch wenn sich mit dem Ukraine-Krieg und anderen Entwicklungen Veränderungen ergeben haben.

Natürlich ist eine solche Analyse auch beschränkt in ihrer Aussagekraft, da sie beispielsweise keine unterschiedliche Gewichtung der Fragen vornimmt und nicht auf Unterschiede bei den Begründungen zwischen den Parteien eingeht.

AfD-Positionen: Neoliberale Wirtschaftspolitik und Beschneidung des Sozialstaats

Die Analyse zeigt, für welche Politik die AfD steht: zum Beispiel für eine extrem neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie setzt sich in fast allen Bereichen für Steuersenkungen, wie neuerdings bei der Erbschaftsteuer, und gegen Steuererhöhungen ein, wie gegen die Besteuerung großer Vermögen. Den Solidaritätszuschlag für die Spitzenverdiener*innen will sie komplett abschaffen. Das Gleiche gilt für die Wirtschaftspolitik, bei der die AfD generell die Rolle des Staates beschneiden und die Macht des Marktes vergrößern will.

Bei der Klimapolitik gibt es keine Partei, die Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Klima systematischer ablehnt als die AfD. Sie ist gegen den Kohleausstieg 2038 genauso wie gegen ein Verbot von Verbrennungsmotoren, die Förderung von ökologischer Landwirtschaft, den Ausbau von Windenergie oder die Besteuerung des Flugverkehrs.

In der Kategorie Sozialpolitik wünscht sich keine Partei im Bundestag stärkere Einschnitte bei den Sozialleistungen als die AfD. So spricht sie sich beispielsweise gegen eine Stärkung der Rechte von Mieter*innen aus. Auch hat sie sich 2021 gegen die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ausgesprochen. Laut aktuellen Forderungen – die somit nicht im Wahl-O-Mat enthalten sind – will die AfD das Bürgergeld beschneiden und auf sechs Monate begrenzen. Zudem will sie Langzeitarbeitslose zu Bürgerarbeit zwangsverpflichten.

In der Gesellschaftspolitik unterscheidet sich die AfD am stärksten von den anderen Bundestagsparteien. So will die AfD die Rechte und Freiheiten vor allem für Minderheiten beschneiden. Sie ist die einzige Partei im Bundestag, die sich gegen eine staatliche Anerkennung von islamischen Verbänden als Religionsgemeinschaften ausspricht, die die traditionelle Familie (Vater, Mutter und Kind(er)) besserstellen will als andere Familienmodelle und sich gegen die Berücksichtigung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten in Veröffentlichungen der Bundesbehörden ausspricht.

Auch in Bezug auf Demokratie und Innenpolitik will die AfD Rechte und Freiheiten deutlich restriktiver handhaben als alle anderen Parteien im Bundestag. Sie lehnt, zusammen mit der CDU/CSU, die Ausweitung des Wahlrechts bei Bundestagswahlen auf Jugendliche ab 16 Jahren und eine doppelte Staatsbürgerschaft ab. In der Kategorie Außenpolitik ist die AfD die einzige Partei, die die Europäische Union abschaffen oder massiv beschneiden will.

Wie steht die AfD in ihren Positionen im Vergleich zu den anderen Parteien im Bundestag da? Bemerkenswert ist, dass die AfD sich noch stärker und umfassender für eine marktorientierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ausspricht als die FDP – obwohl die beiden Parteien recht unterschiedliche Wählerklientele haben. Dabei ist interessant, dass die Antworten der AfD auf die 38 Fragen die stärkste Korrelation mit der FDP und die geringste mit Bündnis 90/Die Grünen und den Linken haben. Vor allem in den Bereichen Wirtschaft, Steuern, Klima und Soziales gibt es große Gemeinsamkeiten in den Antworten zwischen AfD, FDP und CDU/CSU.

In den Politikbereichen Gesellschaft und Demokratie/Innenpolitik dagegen unterscheidet sich die AfD von allen Parteien im Bundestag sehr stark. Bei solchen Vergleichen ist jedoch, wie oben bereits erwähnt, Vorsicht geboten: Eine starke Korrelation bei den Antworten bedeutet nicht zwingend, dass die Positionen – also die Inhalte der Antworten auf die Fragen – identisch sind. Die Gründe für eine Ablehnung oder Zustimmung mögen sich stark unterscheiden. Es soll hier also nicht suggeriert werden, dass die FDP oder CDU/CSU und AfD sich politisch am nächsten stehen, sondern lediglich, dass die Antworten sich am ähnlichsten sind.

Das AfD-Paradox: Schere zwischen Interessen der Wähler*innen und Positionen der Partei

Die Widersprüche zwischen den Interessen der AfD-Wähler*innen und den Positionen der AfD könnten kaum größer sein. Steuersenkungen für die Spitzenverdiener*innen, niedrigere Löhne für Geringverdiener*innen und eine Beschneidung der Sozialsysteme würden AfD-Wähler*innen viel stärker negativ treffen als die Wähler*innen der meisten anderen Parteien. Würde sich die AfD-Politik durchsetzen, käme es zu einer Umverteilung von Einkommen und sozialen Leistungen von AfD-Wähler*innen hin zu den Wähler*innen anderer Parteien.

Dies würde die ohnehin schon häufig am Rande der Gesellschaft stehenden AfD-Wähler*innen noch stärker marginalisieren und ihre gesellschaftliche und politische Teilhabe beschneiden. Die Einschnitte, die die AfD hinsichtlich Gesellschaft und Demokratie vornehmen würde, beträfen vor allem Personen mit Migrationshintergrund, aber durchaus auch AfD-Wähler*innen. Und der mittel- und langfristige wirtschaftliche und politische Schaden, den eine Schwächung der Europäischen Union und eine Aussetzung von Maßnahmen gegen den Klimawandel verursachen würde, träfe vor allem die sozial Schwachen der Gesellschaft – und dazu gehören vor allem auch viele AfD-Wähler*innen.

Wie kann es sein, dass ein Fünftel der Bürger*innen die Politik einer Partei unterstützt, die stark dem eigenen Wohlergehen und den eigenen Interessen zuwiderläuft? Eine plausible Antwort ist die individuelle und kollektive Fehleinschätzung. Kaum eine im Bundestag vertretene Partei in Deutschland hat in den letzten 70 Jahren so hart nach unten getreten und verletzliche Gruppen so stark ausgegrenzt und diskriminiert wie die AfD. Durch die Hetze und Diskriminierung gegen Ausländer*innen und Menschen mit Migrationsgeschichte – was auf fast jede*n vierte*n Deutsche*n zutrifft – schafft es die AfD, den eigenen Unterstützer*innen einzureden, sie würden wirtschaftlich, sozial und politisch gewinnen, wenn soziale Leistungen oder Grundrechte für diese Gruppen eingeschränkt würden.

Die individuelle Fehleinschätzung liegt darin, dass viele AfD-Wähler*innen nicht realisieren, dass eine Politik der Diskriminierung und Ausgrenzung sie selbst stark negativ betreffen würde. Denn sie selbst gehören häufig zum unteren Rand der Einkommensverteilung, genießen seltener Privilegien und haben weniger Chancen als andere und sind stärker auf finanzielle Leistungen des Staates angewiesen. So wären vor allem AfD-Wähler*innen von Arbeitsplatzverlusten, einer schlechteren Infrastruktur und weniger Leistungen, einer Schwächung der Europäischen Union oder Steuersenkungen für Spitzenverdiener*innen stark negativ betroffen.

Die kollektive Fehleinschätzung der AfD-Wähler*innen besteht in dem, was der Zeit-Journalist Nils Markwardt in einem lesenswerten Beitrag „Verblendungszusammenhänge“ nennt.info Hierbei geht es im besten Falle um eine verzerrte Wahrnehmung der Realität und im schlimmsten Falle um irre Verschwörungstheorien, bei denen sich AfD-Wähler*innen als Opfer von Politik und Gesellschaft darstellen und sich selbst als Mehrheit beschreiben.info Nicht wenige AfD-Wähler*innen sind überzeugt, dass eine Rückabwicklung der Globalisierung, ein erstarkender Nationalismus sowie eine neoliberale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ihnen persönlich bessere Arbeitsplätze, mehr Sicherheit und bessere Chancen verschaffen würden. Dabei würde genau das Gegenteil passieren.

Fazit: Politik muss Fehleinschätzungen der AfD-Wähler*innen thematisieren  

 „Be careful what you wish for …“ (Seid vorsichtig, was ihr euch wünscht), diese alte Weisheit trifft auf AfD-Wähler*innen und Sympathisant*innen stärker zu als auf andere Wähler*innen. Die AfD-Ideologie und -Politik – den Staat in der Wirtschafts- und Steuerpolitik zu reduzieren, die Sozialsysteme zu beschneiden, Chancen und Teilhabe von marginalisierten Gruppen in der Demokratie weiter zu beschränken, die Globalisierung und den Klimaschutz zurückzudrehen – würde nicht nur Deutschland, sondern in erster Linie den AfD-Wähler*innen schaden und sie weiter marginalisieren.

Die Aufgabe von Politik und Gesellschaft ist es, die Widersprüche der AfD-Positionen offenzulegen, die individuellen und kollektiven Fehleinschätzungen zu benennen und den AfD-Populismus durch den öffentlichen Diskurs zu entlarven.

Weitere Informationen und Kontakt

Pressemitteilung des DIW Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung