Das Andere sehen? Der kolonialistische Blick
Am Beispiel von historischen Reisealben zeigt und erörtert eine Open-Air-Ausstellung kolonial geprägte Denk- und Wahrnehmungsmuster.
01.04.2021 · Geisteswissenschaften und Bildungsforschung · Deutsches Schifffahrtsmuseum - Leibniz-Institut für Maritime Geschichte · News · Projekte
Die Open-Air-Ausstellung "Das Andere sehen? Der kolonialistische Blick" kann ab Sonntag, 18. April, bis 31. Oktober 2021 in der Rotunde des Museumshafens 24/7 besichtigt werden. Sie entstand in Zusammenarbeit mit Studierenden der Universität Bremen. Bereits am 8. und 9. April gibt es eine virtuelle Konferenz zum Thema "Theorien und Geschichte (post-)kolonialer visueller Kulturen" unter anderem mit der DSM-Kuratorin und Projektleiterin PD Dr. Gisela Parak und internationalen Expert*innen. Interessiertes Fachpublikum kann sich bis 7. April anmelden.
„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erzählen!“ Ende des 19. Jahrhunderts bot der Dienst an Bord der deutschen Kaiserlichen Marine vielen jungen Männern aus einfachen Milieus die Möglichkeit, etwas von der Welt zu sehen. Fotografische Reisealben spiegeln diese Neugier und Faszination des Fremden wider, der sich auch die in die deutschen Kolonien entsandten Marinesoldaten nicht entziehen konnten. Zugleich zeugen die fotografischen Reisealben aber auch von der Erinnerungskultur der Marine, zahlreichen gewalttätigen Übergriffen und der allgemeinen Kriegsbegeisterung, die beispielsweise die Entsendung des Ostasiatischen Expeditionskorps zur Niederschlagung des Boxerkrieges in Nordostchina begleitete.
Heute ist das koloniale Erbe mitsamt seinen Auswirkungen in der Gegenwart ein vieldiskutiertes Themenfeld. Auch das Deutsche Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte (DSM) will anhand der eigenen Sammlungsbestände einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten. Am Beispiel der historischen Reisealben zeigt das Museum in einer Open-Air-Ausstellung, wie ideologisch geprägte Wahrnehmungsmuster den fotografischen Blick prägen und Realität nicht nur einfangen, sondern sie auch nach eigenen Vorstellungen (ver)formen können.
In den Jahren von 1884 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs entsandte das Deutsche Kaiserreich Truppen nach Nordostchina, den Pazifik, und West-, Südwest- und Ostafrika, um dort mittels Kriegsschiffdiplomatie die Gesetze der deutschen Kolonialmacht zu exekutieren und die wirtschaftliche Ausbeutung von Rohstoffen und Ressourcen der Kolonien sicherzustellen. Fotografische Alben bewahren Eindrücke dieser Einsätze und suggerieren eine authentische, durch die persönlichen Erlebnisse der Soldaten verifizierte Überlieferung des Lebens in den Kolonien. Sie bieten zugleich zahlreiche Einblicke in die kolonial geprägten Denk- und Wahrnehmungsmuster und die Geschichte asymmetrischer Kulturkontakte.
Die Reisealben enthalten dabei zahlreiche bildliche Darstellungen der indigenen Kulturen, mit denen die Soldaten bei der Besetzung der Kolonien in Beziehung traten. Auch heute noch haftet der analogen Fotografie als fotochemisches Abbild der Natur der Mythos einer vermeintlich neutralen, objektiven Wiedergabe der Realität an. Die fotografischen Erinnerungen wilhelminischer Soldaten verdeutlichen jedoch, wie stark verinnerlichte Ideologien die eigene Wahrnehmung beeinflussten und so Einfluss auf fotografische Bildsetzungen nahmen und Wirklichkeit konstruierten. Die Annahme der eigenen kulturellen Überlegenheit formte den kolonialistischen Blick. Individuelle Fotografien griffen hierfür auf dieselben Muster bildlicher Inszenierungen zurück, ohne dass es offizielle oder direkte Anweisungen gegeben hätte, wie die indigenen Völker fotografisch darzustellen wären.
Mit der Intervention „Das Andere sehen? Der kolonialistische Blick“ erörtert das DSM erstmals die Bezüge zwischen der Kriegs- und Handelsschifffahrt und der deutschen Kolonialgeschichte und trägt seine kritische Auseinandersetzung mit den kolonialgeschichtlichen Sammlungsbeständen des Hauses in die Öffentlichkeit. Die Ausstellung begleitet hierbei das laufende Forschungsprogramm des DSM und präsentiert eine erste Annäherung und Reflexion des konfliktbeladenen Bildmaterials.
Die Intervention führt anhand 50 exemplarisch ausgewählter „Denkbilder“ und Bildbesprechungen die Ausrichtungen des kolonialistischen Blicks vor Augen und setzt sich kritisch mit den bildlichen Formen einer Stigmatisierung und Herabwürdigung anderer Kulturen auseinander. Als skulpturale Intervention im öffentlichen Raum provoziert sie und lädt den Betrachter dazu ein, sich über diese bildlichen Klischees und Bildformeln bewusst zu werden. Hierzu kontrastieren vier Diskussionsfelder die visuellen Ausdrucksformen des „Othering“ als Spaltung zwischen „wir“ versus „die Anderen“ und loten die für den kolonialistischen Blick charakteristische Trennung der Welt in den fotografischen Darstellungsweisen aus. Der kolonialistische Blick erwies sich hierbei nicht zwangsläufig als homogen und kohärent und war von zahlreichen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten geprägt. Zwischenformen, bildliche Aneignungen der Traditionen der jeweils anderen Kultur und bildliche Adaptionen spezifizieren die Betrachtungen. Im Sinne einer „Schule des Sehens“ dekonstruiert das Projekt einige der charakteristischen Bildformen und visuellen Stereotype, welche den kolonialistischen Blick der Jahrhundertwende prägten.
Virtuelle Konferenz vom 8. bis 9. April 2021
Begleitend zur Ausstellung findet vom 8. bis 9. April 2021 eine Fachtagung in englischer Sprache in Kooperation mit dem Institute for Postcolonial Literary and Cultural Studies, dem Institute for Anthropology and Cultural Studies und dem Institute for Art History/Film Studies/Art Education an der Universität Bremen statt. Internationale Referent*innen tauschen sich zum Thema Seeing the "Other"? - Theories & Histories of (Post-)Colonial Visual Cultures aus. Anmeldungen sind bis 7. April möglich. Informationen zum Programm und zur Registrierung unter: www.dsm.museum/das-conference.
Ein Projekt gefördert aus Mitteln des Aktionsplan Leibniz-Forschungsmuseen.
Outdoor-Ausstellung und Installation im öffentlichen Raum "Das Andere sehen? Der kolonialistische Blick" ab Sonntag, 18. April, bis Sonntag, 31. Oktober 2021, Projektleitung: PD Dr. Gisela Parak, freier Eintritt, 24/7 zugänglich.