Erdgas aus Russland

Die baldige Unabhängigkeit Deutschlands von russischem Gas ist laut einer neuen Studie möglich – bei maximaler Nutzung von Einsparpotenzialen und Lieferungen anderer Länder.

08.04.2022 · News · DIW Berlin - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung · Forschungsergebnis · Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwissenschaften

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Abhängigkeit Deutschlands von Energielieferungen aus Russland erfordern ein Umdenken: Während die Debatte über ein sofortiges Energie-Embargo hochkocht, könnte auch Russland jederzeit seine Lieferungen einstellen. Deutschland bezog bisher rund 55 Prozent seines Erdgases aus Russland. Das DIW Berlin hat Szenarien entwickelt, wie das deutsche Energiesystem im europäischen Kontext schnellstmöglich von diesen Importen unabhängig werden könnte: Auf der Angebotsseite können Lieferungen anderer Erdgasexportländer einen Teil der russischen Exporte kompensieren. Die Versorgungssicherheit würde es erheblich stärken, wenn die Pipeline- und Speicherinfrastruktur effizienter genutzt wird. Auf der Nachfrageseite gibt es ein kurzfristiges Einsparpotenzial von 19 bis 26 Prozent der bisherigen Erdgasnachfrage. Mittelfristig ist insbesondere ein Schub in Richtung erneuerbarer Wärmeversorgung und höherer Energieeffizienz notwendig. Wenn Einsparpotenziale maximal genutzt und gleichzeitig die Lieferungen aus anderen Erdgaslieferländern so weit wie technisch möglich ausgeweitet werden, ist die deutsche Versorgung mit Erdgas auch ohne russische Importe im laufenden Jahr und im kommenden Winter 2022/23 gesichert.

Nachdem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck am 30. März die Frühwarnstufe des Notfallplans Gas ausgerufen hat, ist die Energiekrise infolge des Ukraine-Kriegs in die nächste Stufe gegangen. Die Bundesregierung erhöht die Vorsorgemaßnahmen, um für den Fall eines russischen Gas-Lieferstopps gewappnet zu sein. Dabei kommt der deutschen Energiewirtschaft heute zugute, dass nach den wiederkehrenden Erdgaskrisen seit 2006 im restlichen Europa die Erdgasinfrastruktur ausgebaut wurde.

Der Ausbau erneuerbarer Energien und die Abkehr von der fossilen Erdgasversorgung machen Deutschland und andere europäische Länder zudem mittelfristig unabhängiger von fossilen Energieimporten. Erdgas ist bei Betrachtung der gesamten Produktionskette aufgrund von austretendem Methan bei der Förderung und dem Transport ein ähnlich klimaschädlicher fossiler Energieträger wie Kohle. Veröffentlichungen des DIW Berlin legen schon seit Jahren nahe, dass die mittel- und langfristige Versorgungssicherheit in Deutschland auch ohne Erdgaslieferungen aus Russland gewährleistet werden kann. Zum einen kann auf ein diversifiziertes Angebot per Pipeline und Flüssigerdgasterminals in den Nachbarländern zurückgegriffen werden; zum anderen können Energieeinsparpotenziale von bis zu 26 Prozent des bisherigen Erdgasverbrauchs zur Versorgungssicherheit beitragen. Zeitkritisch sind nunmehr Maßnahmen, die die effiziente Nutzung der bestehenden Infrastruktur ermöglichen und gleichzeitig die Weichen für das mittelfristige Ende der Nutzung fossilen Erdgases insbesondere im Wärmesektor stellen.

Erdgas in der deutschen Energieversorgung

Deutschland verbrauchte im Jahr 2020 rund 868 Terawattstunden (TWh) Erdgas (Zahlen laut Eurostat). Das sind rund 86,8 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Die wesentlichen Verbraucher sind die Industrie (255 TWh, also 29 Prozent des gesamten Erdgasverbrauchs), Haushalte (252 TWh, also 29 Prozent, ohne Fernwärme), Gewerbe/Kleinverbraucher (116 TWh, also 13 Prozent) sowie der Energiesektor mit Stromerzeugung, Wärmeerzeugung und Erdgasnutzung in Raffinerien (insgesamt 243 TWh, also 28 Prozent). Rund 95 Prozent des Erdgasverbrauchs wurden zuletzt importiert. Aus Russland stammten bisher mehr als 50 Milliarden Kubikmeter Erdgas (2020), also mehr als die Hälfte der Importe.

Das russische Erdgas kommt sowohl durch den sogenannten Zentralkorridor durch die Ukraine, die Slowakei und Tschechien (Bratsvo(„Bruderschaft“)-Pipeline) sowie durch die Ende der 1990er Jahre eröffnete sogenannte Yamal-Europe-Pipeline durch Belarus und Polen als auch durch die 2011 eröffnete Nord-Stream-1-Pipeline aus dem Raum St. Petersburg durch die Ostsee nach Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern). Seit wenigen Jahren exportiert Russland auch Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) aus Sibirien nach Europa, wobei dies nur einen kleinen Teil der Exporte Russlands ausmacht und für Deutschland eine untergeordnete Rolle spielt.

Das DIW Berlin hat bereits seit langer Zeit auf die Verwundbarkeit des deutschen und europäischen Energiesystems durch russische Exporte aufmerksam gemacht. Insbesondere Erdgasexporte und -infrastruktur spielen dabei eine zentrale Rolle. Bereits 2014 hatte die russische Gazprom in Deutschland und Osteuropa strategische Infrastruktur unter Kontrolle, eine Tendenz, die sich seitdem fortgesetzt hat. Der Bau von Pipelines durch die Ostsee, um die Ukraine als Transitland zu umgehen, war ebenfalls geopolitisch motiviert. Insbesondere der Bau von Nord Stream 2 folgte eher geostrategischen statt betriebswirtschaftlichen Erwägungen. Jüngere Veröffentlichungen zeigen, dass bereits vor der gegenwärtigen Kriegssituation das Potenzial bestand, die Energieversorgung auf eine größere Vielfalt an Energieträgern umzustellen. Im Folgenden werden die kurzfristigen Anpassungsmöglichkeiten auf der Angebots- und der Nachfrageseite zum möglichen Ersatz russischer Erdgaslieferungen betrachtet und dann in Übereinstimmung gebracht.

Um den Bezug aus Russland zu reduzieren, muss mehr Erdgas von anderen Anbietern importiert werden

Erdgas wird sowohl von europäischen Anbietern als auch von den globalen Märkten importiert. Das geschieht überwiegend im Rahmen von langfristigen Lieferverträgen, jedoch werden diese seit der Liberalisierung der Energiemärkte in Europa in den vergangenen zehn bis 15 Jahren durch Kurzfristhandel an Spot- und anderen Märkten ergänzt.

Neben Russland ist Norwegen seit den späten 1970er Jahren der zweite bedeutende Erdgasexporteur nach Deutschland. Norwegen liefert das Erdgas per Offshore-Pipeline durch die Nordsee (2020 circa. 37 Prozent der deutschen Importe). Der dritte wichtige Erdgaslieferant für Deutschland waren bereits seit den 1960er Jahren die Niederlande, die neben kleineren Feldern in der Nordsee vor allem das große Groningen-Erdgasfeld ausgebeutet haben. Allerdings gibt es seit etwa zehn Jahren Probleme mit Erdbeben in der Groningen-Region, weswegen die Förderung zurückgeführt wird.

Darüber hinaus haben deutsche Energieversorger die Möglichkeit, Flüssigerdgas über Importterminals in den Nachbarländern einzuführen. Dies bietet sich insbesondere für Terminals an der Nordseeküste an, zum Beispiel in den Niederlanden (Rotterdam), Belgien (Zeebrugge) und Frankreich (Dunkerque).

Angesichts der bisherigen Abhängigkeit von Lieferungen aus Russland stellt sich die Frage, ob, beziehungsweise in welchem Umfang russische Exporte nach Deutschland ersetzt werden könnten. Wegen der Abhängigkeit von Pipelines und/oder Flüssigerdgasterminals ist es kurzfristig nur über bestehende Infrastrukturkapazitäten möglich, die Lieferungen zu erhöhen. Allerdings gibt es dabei im Verhältnis zu den Lieferungen in den vergangenen Jahren deutliche Wachstumspotenziale, wie auch die bereits gesteigerten Lieferungen der vergangenen Wochen zeigen. Diese Steigerungspotenziale belaufen sich in Summe auf bis zu 37 Milliarden Kubikmeter für das gesamte Jahr 2022 beziehungsweise 28 Milliarden Kubikmeter für die Monate April bis Dezember 2022. Sie sollen hier kurz skizziert werden.

Es wird zwischen dem Baseline-Angebot, dem maximalen Angebot sowie einem realistischen Angebot unterschieden. Das Baseline-Angebot entspricht dem unter normalen Umständen für 2022 erwarteten Angebot auf Basis der vergangenen Jahre und aktuellen Lieferverträge. Allgemein gesagt wird für das maximale Angebot von einer höchstmöglichen Steigerung der Lieferungen an Deutschland ausgegangen, während für das realistische Angebot auch die Bedürfnisse der deutschen Nachbarländer sowie die geplanten Wartungen mit einbezogen werden. Auch das realistische Angebot liegt höher als das bisherige nicht-russische Angebot und zwar um 19 Milliarden Kubikmeter für das gesamte Jahr 2022 beziehungsweise um 14 Milliarden Kubikmeter für die Monate April bis Dezember 2022.

Für das maximale Angebot wurde angenommen, dass Norwegen in diesem Jahr ohne Unterbrechung auf dem Niveau der Tageshöchstkapazität der Pipelines nach Deutschland liefern kann (also 3,51 Milliarden Kubikmeter pro Monat). Realistischerweise muss aber davon ausgegangen werden, dass aus Sicherheitsgründen die Jahreswartungen in den Feldern und Pipelines, die alles in allem circa einen Monat dauern, durchgeführt werden müssen. Außerdem wird Norwegen ab Herbst 2022 einen Teil des bisher nach Deutschland gelieferten Gases in die Baltic Pipe nach Polen senden (zehn Milliarden Kubikmeter Jahreskapazität; hier wird für 2022 mit zwei Milliarden Kubikmeter gerechnet).

Für das maximale Angebot aus den Niederlanden wird angenommen, dass die Niederlande im gesamten Jahr auf dem höchsten Monatsniveau des Jahres 2021 liefern können (1,946 Milliarden Kubikmeter pro Monat). Das impliziert, dass die Reduktion der Förderung aus dem Groningen-Feld vorübergehend ausgesetzt wird und die Produktion in den sogenannten Small Fields auf hohem Niveau aufrechterhalten wird. Dies wurde jedoch in den vergangenen Monaten trotz hoher Preise nicht erreicht. Im realistischen Angebot wird daher von einem um 40 Prozent niedrigeren Wert ausgegangen. Dieses entspricht ungefähr den Lieferungen im Jahr 2021 und wäre also immer noch höher als bisher geplant.

Die LNG-Terminals in Nordwesteuropa sind über das europäische Pipelinenetz mit dem deutschen Markt verbunden. Für das Szenario mit maximalem Angebot wird davon ausgegangen, dass mindestens die Hälfte der Kapazitäten der Terminals für Importe nach Deutschland genutzt werden können (Rotterdam), beziehungsweise die im vergangenen Jahr ungenutzten Kapazitäten für Deutschland zur Verfügung stehen könnten (Dunkerque, Zeebrugge, abzüglich des Ersatzes möglicher Ausfälle russischer Exporte nach Belgien). Im realistischen Szenario müssen die LNG-Importmöglichkeiten über die Niederlande (Rotterdam) niedriger angesetzt werden, da die Niederlande wahrscheinlich sowohl ihre eigenen Produktionsschwierigkeiten sowie zuletzt recht hohe Importe aus Russland durch LNG-Importe ausgleichen müssen. Auf dem globalen Markt sind LNG-Angebot und -Schiffe verfügbar, da bei hohen Preisen in Europa LNG-Lieferungen statt nach Asien nach Europa geleitet werden. Dies war in den ersten Monaten des Jahres 2022 bereits zu beobachten.

Weitere Möglichkeiten, das Angebot in Deutschland durch EU-weite effizientere Netzbewirtschaftung zu erhöhen, sind noch nicht einberechnet. So wäre bei entsprechender Netzbewirtschaftung auch ein Handel mit Flüssigerdgas möglich, das über LNG-Terminals an der Mittelmeer- beziehungsweise der Adriaküste nach Europa kommt. Dies könnte zum Beispiel durch Netting (sogenannte virtuelle Umkehrflüsse oder virtual reverse flows) in den Pipelines innerhalb Europas ermöglicht werden. Durch dieses Gegenrechnen der Flüsse in beide Richtungen können zusätzlich zu den physischen Kapazitäten in eine Richtung Verkäufe in die entgegengesetzte Richtung getätigt werden. Die Fließrichtung in den Pipelines im ost- und zentraleuropäischen Raum ist im Allgemeinen noch aus Osten (Russland) in Richtung Westen und Süden (zum Beispiel Italien). Netting beziehungsweise virtuelle Umkehrflüsse sind sofort umsetzbar und böten noch vor der Einrichtung von physischen Gegenflusskapazitäten die Möglichkeit, Gas von LNG-Terminals in Südeuropa (Italien, Kroatien, Türkei und so weiter) in bisher von Russland abhängige Länder Ost- und Mitteleuropas zu bringen. Auch Erdgas von nordafrikanischen Anbietern, die per Pipeline nach Italien liefern (Algerien, Libyen), könnte so nach Deutschland verkauft werden.

Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung derzeit die Nutzung von schwimmenden Flüssigerdgasterminals an der deutschen Küste, die für die nächsten Winter entlasten könnten. Bei neuen Kapazitäten für den fossilen Energieträger Erdgas sollte aber ein Ausstiegsdatum mitbedacht werden, um nicht in Konflikt mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu kommen. Schwimmende Flüssigerdgasterminals (sogenannte Floating Storage and Regasification Units, FSRU) werden häufig in Leasing-Verträgen gechartert und böten sich damit für die zeitlich befristete Nutzung an. Feste LNG-Terminals in Deutschland zu errichten, ist dagegen wegen der langen Bauzeiten und dem mittelfristig stark rückläufigen Erdgasbedarf nicht sinnvoll.

Kurzfristige Energieeinsparmöglichkeiten, um den Erdgasverbrauchs zu senken

Bei einem Wegfall der bisherigen Erdgasimporte aus Russland wird es notwendig sein, den Erdgasverbrauch zu senken. Angesichts der aktuell dramatischen Situation kann mit einem höheren Nachfragerückgang gerechnet werden, als er in den langfristigen Gleichgewichtsmodellen angelegt ist, die üblicherweise für die Analyse herangezogen werden. So ging die Nachfrage nach einem Preisanstieg durch die Unterbrechung der Versorgung in einem Gleichgewichtsmodell des internationalen Erdgasmarkts lediglich um vier Prozent jährlich zurück. Dagegen zeigen aktuelle energiewirtschaftliche Studien kurzfristige Einsparpotenziale in Höhe von etwa 18 Prozent des Gasbedarfs in Deutschland. Darüber hinaus setzt der seit Sommer 2021 hohe Preis für Erdgas auf den Großhandelsmärkten Anreize, den Erdgasverbrauch zu reduzieren.

Es werden auch für die Erdgasnachfrage verschiedene Szenarien unterschieden – von einem Baseline-Szenario über ein mittleres Einsparszenario bis zu einem optimistischen Einsparszenario. Das Baseline-Szenario enthält die Annahme moderater Einsparungen (minus neun Prozent im Vergleich zum Jahr 2020), womit die Erdgasnachfrage ungefähr dem Niveau in den Jahren 2014/2015 entspricht, als ebenfalls hohe Preise am Erdgasmarkt vorherrschten. Vor allem im Stromsektor (ohne Wärmeerzeugung), wo der Ersatz von Erdgas aus technischer Sicht einfacher machbar ist, kann der Erdgasverbrauch reduziert werden. Dabei müsste allerdings kurzfristig mehr Kohle genutzt werden. In den Nachfrageszenarien wird davon ausgegangen, dass mindesten 30 Prozent und bis zu 100 Prozent (im Verhältnis zu 2020) des Erdgasverbrauchs im Stromsektor verschoben werden könnten.

Das Szenario mit mittleren Einsparungen (minus 18 Prozent im Vergleich zum Jahr 2020) ähnelt den Nachfrageeinschätzungen anderer Institute, wenn sich die Annahmen im Detail auch (leicht) unterscheiden. Das Szenario basiert auf einer vollständigen Substitution von Erdgas in der Stromerzeugung (ohne Wärmeerzeugung). Darüber hinaus geht der Erdgasverbrauch in der Industrie sowie bei den privaten Haushalten stärker zurück (minus 15 Prozent). Bei den Haushalten kann dies durch ein Absenken der Raumtemperatur, der Warmwassernutzung sowie den kurzfristig stärkeren Verbau von Wärmepumpen erreicht werden. Einkommensschwache Haushalte müssen für die hohen Erdgaspreise finanziell entlastet werden. In der Industrie besteht das größte Einsparpotenzial durch den Umstieg auf alternative Energieträger in der Wärmerzeugung wie Strom, Kohle oder Biomasse. Allerdings ist dieser Wechsel für Prozesse, die eine hohe Wärme benötigen, schwierig, weswegen mit insgesamt 15 Prozent eher moderate Einsparungen für die Industrie angenommen werden.

Das Szenario mit optimistischen Einsparungen orientiert sich am Phase-2-Szenario von Agora Energiewende. Im Vergleich zum Szenario „mittlere Einsparungen“ wird von einer deutlich stärkeren Nachfragereduktion im Industriesektor (minus 33 Prozent) ausgegangen, der alle Sektoren betrifft, wenn auch nicht gleichermaßen. Für die Nahrungsmittel- und Chemieindustrie wird das größte Einsparpotenzial angenommen, da dort leichter eine Umstellung auf andere Energieträger möglich scheint. Auch für die chemische Industrie wird von einem überdurchschnittliches Einsparpotenzial ausgegangen, da Vor- und Endprodukte, die bisher in Deutschland aus Erdgas hergestellt werden, auch teilweise importiert werden können. Dennoch wird die in diesem Szenario angenommene Reduktion des Erdgasverbrauchs vorrausichtlich mit einem temporär signifikanten Rückgang der industriellen Produktion in Deutschland einhergehen.

Szenarien für Angebots-Nachfrageverhältnisse („Deckungslücke“)

Die oben skizzierten Szenarien für das mögliche Erdgasangebot und die mögliche (reduzierte) Nachfrage im Jahr 2022 werden im Folgenden kombiniert. Dabei liegt der Fokus auf der Versorgung in den kommenden Monaten, also ab April bis einschließlich Dezember 2022. Hierbei wird auch die Befüllung der Erdgasspeicher mit eingerechnet, mit denen eine Bevorratung für die weiteren Wintermonate der Heizperiode 2022/23 (üblicherweise bis Ende März) vorgenommen wird.

Deutschland verfügt im europäischen Vergleich über großzügige Erdgasspeicherkapazitäten in Höhe von 24,5 Milliarden Kubikmeter, also mehr als ein Viertel der bisherigen Jahresnachfrage beziehungsweise mehr als zwei Drittel der Nachfrage in den Wintermonaten Januar bis März. Die Bundesregierung plant eine verpflichtende Befüllung der Speicher zu 80 Prozent am 1. Oktober und zu 90 Prozent am 1. November. Die einzuspeichernden Mengen müssen während der Sommermonate zusätzlich zum aktuellen Verbrauch beschafft werden. Sollten die Speicher vollständig befüllt werden, wären das ab dem 1. April immerhin 17,85 Milliarden Kubikmeter, bei einer Befüllung zu 90 Prozent immer noch 16 Milliarden Kubikmeter. Die geplanten strengen Vorgaben schränken also potenziell die Verfügbarkeit von Erdgas für die VerbraucherInnen während des Sommers ein. Gleichzeitig zeigt unsere Angebotsanalyse, dass das nicht-russische Angebot selbst im Baseline-Szenario ein Drittel der Nachfrage deutlich übersteigt, also dass nicht zwei Drittel der Nachfrage in den Speichern vorgehalten werden müssten. Daher wird beim optimistischen Nachfrageszenario von einer Befüllung von 80 Prozent ausgegangen, die bis Ende 2022 erreicht wird.

Ein maximales Angebot ergibt in Kombination mit allen Nachfrageszenarien ein ausgeglichenes Bild für das Jahr 2022 sowie den Winter 2022/23. Eine Deckungslücke ergibt sich bei einem niedrigeren Angebot. Mit einem realistischen Angebot und mittleren Einsparungen beträgt die Deckungslücke aber nur 10 Prozent. Diese könnten durch zusätzliche Einsparungen erreicht werden.

Fazit: Versorgungssicherheit ohne neue LNG-Terminals möglich

Wenn das deutsche Energiesystem schnell angepasst wird, könnte im Lauf des Jahres 2022 der Wegfall russischer Erdgasexporte kompensiert und die Energieversorgung im kommenden Winter gesichert werden. Bedingung hierfür ist, dass die Erdgasimporte Deutschlands aus den traditionellen Lieferländern deutlich ausgeweitet werden. Weiterhin ist es notwendig, die vorhandenen Speicher rechtzeitig vor Beginn der Heizperiode im Winter 2022/23 auf 80 bis 90 Prozent aufzufüllen. Eine effizientere Nutzung des deutschen und europäischen Erdgaspipelinesystems auch zur Verbindung Deutschlands mit Südeuropa könnte die Situation weiter entspannen. Zwar reicht das zusätzliche Angebot nicht aus, um die gesamten bisherigen russischen Erdgasimporte zu ersetzen, in Kombination mit einem rückläufigen Erdgasverbrauch kann die deutsche Energieversorgung gesichert werden. Der Bau von LNG-Importterminals an der Küste ist aufgrund der langen Bauzeiten und dem mittelfristig stark rückläufigen Erdgasbedarf nicht sinnvoll und es bestehen erhebliche Verlustgefahren (sogenannte stranded investments).

Unter optimistischen Annahmen sind Einsparungen von Erdgas in Höhe von 18 bis 26 Prozent der Nachfrage möglich. Während Erdgas im Stromsektor kurzfristig durch alternative Energieträger ersetzt werden kann, gehen die Einsparungen bei der Industrie mit einem Produktionsrückgang einher. Die besonders betroffenen Branchen sollten daher entschädigt werden. Diese Programme sollten darauf abzielen, den Erdgasverbrauch strukturell zu reduzieren und die Umstellung auf treibhausgasarme Produktionstechnologien voranzutreiben. Bei den privaten Haushalten kann Erdgas zum großen Teil nur durch eine geringere Energienachfrage eingespart werden, so dass schnellstmöglich Energiesparkampagnen notwendig sind. Darüber hinaus müssen jetzt rasch Maßnahmen umgesetzt werden, die die Energieeffizienz steigern und den Umstieg auf erneuerbare Wärme (in Verbindung mit Wärmepumpen) erleichtern.

Weitere Informationen und Kontakt

Pressemitteilung des DIW Berlin - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung