Fiskalpolitik in der Verantwortung

Ein Stopp russischer Energieeinfuhren würde die deutsche Wirtschaft spürbar treffen. Leibniz-Ökonomen veranschaulichen mögliche Szenarien.

31.03.2022 · News · DIW Berlin - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung · Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Raumwissenschaften · Forschungsergebnis

Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben viele westliche Länder Sanktionen gegen Russland verhängt, insbesondere gegen die Finanzwirtschaft. Doch zu einer Sanktion konnten sich die EU und auch Deutschland bisher nicht durchringen: ein Embargo auf den Import russischer Energieträger. Dieses vielfach kritisierte Zögern begründet die Bundesregierung mit den wirtschaftlichen Auswirkungen, die ein Importstopp für die deutsche Wirtschaft haben könnte. Denkbar ist aber auch, dass Russland seine Lieferungen aussetzt. Die vorliegende Modellrechnung zeigt, durch welche Wirkungskanäle – mit einem Fokus auf der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und vor allem dem privaten Konsum – ein Embargo oder Lieferstopp Deutschland treffen könnte. In dem Basisszenario erstrecken sich die BIP-Verluste über rund zehn Jahre und erreichen ihren Höhepunkt nach 18 Monaten mit einem Minus von drei Prozent. Gleichzeitig würde ein Importstopp zu einem Anstieg der Inflation um bis zu 2,3 Prozentpunkte führen. Das hier verwendete Modell wird dabei so aufgesetzt, dass es die Schwachpunkte einer kürzlich erschienenen Studie adressiert, indem es sowohl den privaten Konsum als auch die Wechselwirkungen im Euroraum miteinbezieht. Beide Studien zusammen ergeben ein immer besseres Bild der Wirkungsmechanismen eines Energieembargos auf die deutsche Wirtschaft. Das Modell macht eine Reihe von Annahmen, die in den meisten Fällen realistisch und angemessen sind. Jedoch muss betont werden, dass es noch nie ein solches Embargo in einer solchen Situation gegeben hat, so dass jegliche Annahmen mit Unsicherheit verbunden sind. Die Resultate auf Basis des Modells deuten die Größenordnung der Effekte eines Embargos an und sollen dazu dienen, der Politik eine Orientierung bei einem möglichen Lieferstopp zu geben.

Fast täglich werden von PolitikerInnen und ÖkonomInnen in Talkshows und Meinungsbeiträgen Rufe nach härteren Sanktionen gegen Russland laut, um den verheerenden Krieg in der Ukraine zu beenden.  Insbesondere wird von manchen das Ende des Importes russischer Energieträger gefordert. Die Bundesregierung warnt aber vor den wirtschaftlichen Folgen eines solchen Importstopps für Deutschland. Denkbar ist aber nicht nur ein Importstopp von Seiten der Bundesrepublik, sondern auch, dass Russland seine Lieferungen aussetzt.

Beide Szenarien hätten zunächst deutliche Auswirkungen auf die russische Wirtschaft. Russland erwirtschaftet immerhin knapp 30 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes durch den Verkauf von Öl, Kohle und Gas. Selbst wenn Russland weiterhin in der Lage sein sollte, einen Teil seiner Primärenergieträger an Drittländer wie zum Beispiel China zu verkaufen, ist davon auszugehen, dass dies nur unter erheblichen Preisabschlägen möglich sein wird. Bereits jetzt wird Ural-Öl zu einem deutlich niedrigeren Preis als Brent oder WTI am Weltmarkt gehandelt. Dementsprechend hat ein Energieimportstopp das Potenzial, die russische Wirtschaft zu destabilisieren und Druck auf die russische Regierung auszuüben, ihren Vernichtungskrieg gegen die Ukraine einzustellen. Ein wichtiger Faktor dabei ist auch, dass ein Importstopp Substitutionsprozesse bei den Industrien in Westeuropa auslösen wird, wie zum Beispiel ein schnellerer Umstieg auf erneuerbare Energien. Diese Neuausrichtung wird – auch vor dem Hintergrund anstehender Klimaschutzinvestitionen – wirtschaftlich irreversibel sein und somit den Markt für russische Energie auch nach dem Krieg, wie auch immer er ausgehen mag, langfristig schwächen.

Modell berücksichtigt auch Wechselwirkung zwischen den Euro-Ländern

Im Folgenden soll nun berechnet werden, wie und durch welche Mechanismen sich ein Wegfall der russischen Energie- und insbesondere der Gasimporte auf die deutsche Wirtschaft auswirken könnte. Dabei liegt der Fokus nicht auf den Auswirkungen für die Unternehmen, sondern auf der wichtigsten Komponente der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage: dem privaten Konsum. In dem Modellinfo verfügen Haushalte über ein unterschiedliches Einkommen und deswegen auch über unterschiedliche Vermögen. Beides beeinflusst die Konsummöglichkeiten der Haushalte in einer Rezession. Zusätzlich verfügt das Modell über Preisfriktionen: Preise können von den Firmen nicht beliebig verändert werden, sondern sind rigide. Diese Modelleigenschaft kann gerade in Rezessionen den Konjunkturabschwung verschärfen, da sich die Preise nicht der geringeren Nachfrage anpassen können. Weiterhin berücksichtigt das Modell die Spillover-Effekte, die sich für Deutschland aus dem Euroraum ergeben können. Sollte es zu einem deutschen Embargo kommen oder Russland die Lieferungen einstellen, beträfe dies auch andere Euro-Staaten, die dann in eine Rezession gerieten. Für ein exportorientiertes Land wie Deutschland ergäben sich hier weitere negative Konjunktureffekte. Des Weiteren bildet das Modell die Reaktion der Europäischen Zentralbank ab.

Berücksichtigt werden zudem die unterschiedlichen gesamtwirtschaftlichen Voraussetzungen in den Euro-Ländern. Grob beschrieben besteht dieses Modell aus einem niedrig verschuldeten Nordstaat und einem hoch verschuldeten Südstaat. Beide Länder unterscheiden sich mit Hinblick auf das jeweilige soziale Sicherungssystem. Insbesondere ist das Modell auf Deutschland und Italien kalibriert, die exemplarisch für die zwei Sozialstaatsmodelle innerhalb des Euroraums stehen. So gibt es in Deutschland ein ausgeprägtes soziales Netz, dass das Einkommensrisiko der Haushalte zumindest teilweise durch den Staat auffängt. In Italien ist das soziale Netz weniger stark ausgeprägt als in Deutschland. Dies führt dazu, dass die Haushalte in Italien stärker auf private Ersparnisse angewiesen sind, um ihr Einkommensrisiko abzusichern. Die Ersparnisse sind möglich durch das hohe Angebot an staatlichen Wertpapieren. Auch um private Ersparnisse bereitzustellen, hat Italien deutlich höhere Staatsschulden als Deutschland (135 vs. 60 Prozent des jährlichen BIP im Jahr 2019 vor Ausbruch der Corona-Krise). Dadurch trägt das Modell den unterschiedlichen Staatsverschuldungen im Euroraum und der unterschiedlichen Konsumreaktion in beiden Ländern aufgrund der unterschiedlichen Ersparnisse und Einkommensrisiken Rechnung.

Das Modell macht eine Reihe von Annahmen, die in den meisten Fällen realistisch und angemessen sind. Jedoch muss betont werden, dass es noch nie ein solches Embargo in einer solche Situation gegeben hat, so dass jegliche Annahmen mit erheblicher Unsicherheit verbunden sind. So wird beispielsweise innerhalb dieses Modells angenommen, dass das Embargo dauerhaft ist und sowohl die Produktivität im Euroraum reduziert als auch Teile des Kapitalstocks zerstört.  Die Produktivität geht anfänglich um 2,2 Prozent zurück und reduziert sich nach 20 Quartalen auf 0,3 Prozent. Dies entspricht in etwa dem pessimistischen Szenario einer kürzlich erschienenen, vieldiskutierten Studie für Deutschland.info Für die Modellrechnung wird angenommen, dass der Kapitalstock um drei Prozent zurückgeht. Das ist mehr als das Bruttoanlagevermögen der gasintensivsten Wirtschaftszweige am gesamten Anlagevermögen der deutschen Industrie und bildet damit auch Kapitalverluste in anderen Bereichen der Volkswirtschaft ab, die mit verringerten Gasimporten an Wert verlieren (zum Beispiel Gasheizungen privater Haushalte).

Deutsches Bruttoinlandsprodukt sinkt um drei Prozent

Ein Gasembargo würde im Euroraum deutliche Spuren hinterlassen (Abbildung) – in den Nordländern wie Deutschland (blaue Linie) ähnlich wie in den Südländern wie Italien (rote Linie). Angenommen wird, dass die Produktivitäts- sowie Kapitalstockschocks beide Länder gleichermaßen treffen. Dies lässt das Bruttoinlandsproduktes um gut drei Prozent nach etwa sechs Quartalen sinken – sowohl in Nord- als auch in Südeuropa. Durch den Importstopp wird ein Teil des Kapitalstockes unbrauchbar, ihn zu ersetzen benötigt Zeit. Deswegen ist der Rückgang des Bruttoinlandsproduktes langwierig: Selbst nach 40 Quartalen ist die wirtschaftliche Aktivität noch nicht wieder auf dem Niveau von vor dem Ukraine-Krieg. In beiden Ländern gehen sowohl die Bruttoinvestitionen als auch der Konsum zurück, wobei die Bruttoinvestitionen stärker fallen.

Da das Embargo wie ein Produktivitätsschock auf die Wirtschaft wirkt, sinken die Produktionsmöglichkeiten schneller als die Einkommen der Haushalte. Weil also der private Konsum erst mal nicht einbricht, wird der Abschwung nicht durch negative Nachfrageeffekte verstärkt. Im Gegenteil, die negativen Effekte werden sogar abgefedert, da die Nachfrage größer ist als das Angebot und dadurch die Preise sogar ansteigen. Die Inflation steigt in beiden Ländern anfänglich um über zwei Prozentpunkte. Um diesem Inflationsanstieg entgegenzuwirken, beinhaltet das Modell einen Anstieg der Leitzins mittelfristig um 0,5 Prozentpunkte. Dies senkt die anfänglich hohe Inflation in der mittleren Frist rasch wieder. Sollte die Zentralbank den Leitzins nicht erhöhen, um keine negativen Wirkungen auf Finanzierungsbedingungen und Kreditvergabe auszuüben, würde das zu einer schwächeren Rezession führen als im Modell aufgezeigt.

Angenommen wird auch, dass die Fiskalpolitik sowohl im Nordland als auch im Südland lediglich dafür sorgt, dass die Staatsschulden in der langen Frist durch Steuererhöhungen auf ihr Niveau vor dem Embargo zurückgeführt werden.info Das heißt, in der Simulation ergreift die Fiskalpolitik keine weiteren Stabilisierungsmaßnahmen, um den BIP-Rückgang zu dämpfen. Da beide Länder aber über umverteilende Steuersysteme verfügen, wirken zumindest die automatischen Stabilisatoren. Umgekehrt bedeutet dies jedoch, dass noch Spielraum für die Fiskalpolitik besteht, um unerwünschte gesamtwirtschaftliche Folgen des Embargos etwas aufzufangen. Kurzfristig könnte die Fiskalpolitik durch erhöhte Staatsausgaben oder Transferzahlungen an Haushalte die Spitzen des BIP-Rückgangs dämpfen. Darüber hinaus könnte sie mit Investitionsprogrammen die privaten Investitionen ankurbeln, um den Einbruch des Kapitalstockes mittelfristig schneller wieder aufzufangen.

Solche Maßnahmen würden aber zu Lasten des privaten Konsums gehen, der parallel zum langfristigen Wiederaufbau des Kapitalstocks anhaltend niedrig bleibt.

Gleichzeitig spiegelt der Rückgang des Kapitalstocks aber, zumindest in Teilen, Kosten wider, die ohnehin durch die ökonomische Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise anfallen werden. Der Ersatz der Kapitalgüter wird lediglich vorweggenommen.

Ein starker Unterschied zwischen den Nord- und den Südländern besteht in der Entwicklung der Schuldenquote. Das Südland muss, da die EZB-Leitzinserhöhung die ohnehin hohen Staatsschulden verteuert, stärker den Staatshaushalt stabilisieren. Da hier eine Stabilisierung über Steuern angenommen wird, führt dies zu einem zusätzlichen Absinken des Kapitalstocks. Dadurch geht die Schere der unterschiedlichen Staatsverschuldung weiter auseinander.

Kritische Einordnung der Ergebnisse und Verhältnis zur Literatur

Die Ergebnisse aus dem Modell unterliegen einer gewissen Unsicherheit. Die Unsicherheit speist sich erstens aus den Annahmen, die über die Werte der Parameter des Modells getroffen werden. Variationen der Parameterwerte verändern dann auch die wirtschaftliche Reaktion auf das Embargo.info Zweitens handelt es sich dabei um ein Modell mit dem Fokus auf der Nachfrageseite der KonsumentInnen. Wichtige Aspekte wie der Finanzsektor werden in dem Modell nicht betrachtet. In dem Zusammenhang ist es wichtig zu unterstreichen, dass Staatsschulden in dem Modell als sicher angenommen werden, das heißt, dass es kein Ausfallrisiko für italienische Staatsschulden gibt. Eine Staatsschuldenkrise in Italien würde die Rezession sicherlich vertiefen. Drittens wird in dem Modell angenommen, dass die Maastricht-Kriterien ausgesetzt und die Schulden langfristig bedient werden. Sollten die Defizitregeln nicht ausgesetzt werden, kommt es zu einer tieferen Rezession in Italien, da die Steuern eher und stärker erhöht werden müssen. Dementsprechend wird sich auch die Rezession in Deutschland mit ungefähr vier statt drei Prozent vertiefen. Viertens ist der Firmensektor nicht detailliert abgebildet. Der Firmensektor ist in der bereits oben erwähnten Studie modelliert worden.info

Diese vorherige Studie kam zu dem Ergebnis, dass je nachdem, wie der Wegfall der russischen Energie- und insbesondere der Gasimporte kompensiert werden kann, das deutsche Bruttoinlandsprodukt zwischen 0,3 und 3,0 Prozent sinken dürfte. Der größte Rückgang erfolgt, wenn der Wegfall russischer Energieträger durch andere Quellen nicht ersetzt werden kann. Ein geringer Rückgang von 0,3 Prozent setzt voraus, dass der Importstopp durch internationalen Handel im Bereich von Zwischenprodukten fast komplett ersetzt werden kann. Allerdings berücksichtigt diese Studie nur die deutsche Wirtschaft als geschlossenen Raum und auch nur den Firmensektor. Dabei werden sowohl die konjunkturellen Verstärkungseffekte, die sich für ein exportorientiertes Land wie Deutschland aus dem Embargo ergeben, als auch die unterschiedlichen Effekte auf die wirtschaftlich sehr heterogen aufgestellten Euro-Länder vernachlässigt. Die vorliegende Studie ergänzt diese Aspekte, insbesondere den privaten Konsum. Da beiden Studien, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen, zu ähnlichen Ergebnissen kommen, ergibt sich zusammen genommen ein immer klareres Bild der wirtschaftlichen Auswirkungen eines Embargos auf Deutschland.

Fazit: Fiskalpolitik kann Abschwung dämpfen

Ein Wegfall russischer Energieträger hätte weitreichende Folgen für die Wirtschaft in Deutschland. Das Embargo, das als geringere Produktivität und Vernichtung eines Teiles des Kapitalstocks modelliert wird, führt zu einer langanhaltenden Rezession, die nach sechs Quartalen mit drei Prozent ihren Höhepunkt erreicht. Damit decken sich die Ergebnisse dieser Analyse mit denen, die in einem anderen Modellrahmen errechnet wurden.

Die Schwere der Rezession ist demnach vergleichbar mit der Rezession, die durch die Corona-Pandemie verursacht wurde und kann dementsprechend mit zielgenauer makroökonomischer Wirtschaftspolitik deutlich begrenzt werden.

Zudem würde ein Embargo gegen Russland das BIP auch dadurch belasten, dass hohe Kosten entstehen, um den Wegfall der russischen Energieträger zu kompensieren. Darin enthalten sind aber auch ohnehin notwendige Investitionen für die Energiewende, die nun vorgezogen werden. Eine stimulierende Fiskalpolitik, die hier Investitionsanreize setzt, kann daher die kurz- wie langfristigen Kosten mildern. Wichtig ist aber auch, dass die Politik die Wirtschaft auf einen Lieferstopp vorbereitet, um die Schwere des möglichen Schocks abzuschwächen.

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