Noch lange kein Frieden

Ukrainische Flagge
Foto LENA POLISHKO/UNSPLASH

Ein Ende des Ukraine-Kriegs ist nicht in Sicht, sagen führende Friedensforschungsinstitute in ihrem aktuellen Gutachten.

12.06.2023 · HP-Topnews · Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung · Geisteswissenschaften und Bildungsforschung · Forschungsergebnis

Im zweiten Jahr des russischen Angriffs­kriegs gegen die Ukraine ist kein Ende der Gewalt in Sicht, und die globalen Aus­wirkungen zeichnen sich immer stärker ab. Die euro­päischen NATO-Staaten sollten sich auf eine langfristige Unterstützung der Ukraine einstellen. Zu dieser Einschätzung kommen Deutschlands führende Friedens- und Konflikt­forschungs­institute in ihrem heute vor­­gestellten Friedensgutachten 2023. Die Institute empfehlen außerdem, die Wagner-Gruppe zu sank­tionieren, multi­laterale Rüstungskontrolle auszuweiten und instabile Gesell­schaften im Globalen Süden zu stärken. Das Friedensgutachten 2023, das den Titel „Noch lange kein Frieden“ trägt, legt klare Empfehlungen an die deutsche Politik nach der „Zeitenwende“ vor.

In der Ukraine gibt es noch lange keinen Frieden – vielmehr zeichnet sich ab, dass sich der völkerrecht­swidrige russische Überfall zu einem noch lange andauernden Abnutzungs­krieg entwickeln wird. Ausdrücklich warnen die führenden deutschen Friedens­forschungs­­institute davor, die militärische Unterstützung der Ukraine einzustellen und – wie in den vergangenen Monaten von einzelnen gesell­schaft­lichen Gruppen gefordert – nur auf Verhandlungen zu setzen. Die Konsequenz wäre, dass Russland seinen Expansions­­drang weiterverfolgen und sich die Sicherheits­lage in ganz Europa verschlechtern würde, so die Wissenschaftler:innen. Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe bleiben notwendig, damit die Ukraine sich selbst verteidigen kann. Zugleich sollten schon jetzt Verhandlungen vorbereitet werden, die mit umfangreichen Sicherheits­garantien für die Ukraine verbunden sein sollten. Die Bundes­regierung könnte dabei eine zentrale Rolle spielen und sich um eine internationale Verhandlungs­initiative bemühen.

Wagner-Gruppe sanktionieren

Eine immer größere Rolle bei Gewaltkonflikten weltweit spielen nicht­staatliche bewaffnete Söldne­rarmeen, allen voran die russische Wagner-Gruppe. Da sie sich häufig der direkten Kontrolle ihrer Auftrag­geber:innen entzieht, agiert diese Gruppe besonders brutal, unterminiert internationale Friedensmissionen und trägt damit zur Destabilisierung ganzer Regionen wie etwa im Sahel bei. Die Bundesregierung, so die Forderung der Friedens­forschungsinstitute, sollte die Wagner-Gruppe als kriminelle Gruppierung einstufen und auf Sanktions- und Fahndungslisten setzen.

Afrika bleibt Krisenhotspot

2022 blieb das weltweite Konfliktgeschehen auf einem unverändert hohen Niveau. Die Hälfte der bewaffneten Konflikte fand in Afrika statt. In jedem zweiten inner­staatlichen Konflikt waren dort trans­national operierende dschi­hadistische Gruppen, wie z. B. der sogenannte Islamische Staat (IS), involviert.

Nachhaltiger Frieden in einer Welt multipler Krisen

Zunehmende Armut, die Auswirkungen des Klimawandels und gesellschaftliche Polari­sierung sind weitere Risiken für das friedliche Zusammenleben in Deutschland, Europa und weltweit. In Zeiten dieser multiplen Krisen und komplexen Heraus­forderungen wäre eine rein verteidigungs­politisch verstandene Zeitenwende, die vor allem auf den Ausbau militärischer Kapazitäten setzt, nicht ausreichend. Zum einen sind entwicklungs­politische Strategien zu entwickeln, um die Resilienz besonders gefährdeter Gesellschaften im Globalen Süden zu stärken und die Ernährungs­sicherheit der Bevölkerung zu garantieren. Zum anderen brauchen auch westliche Demokratien Strategien, um gesellschaftlicher Polarisierung entgegenzuwirken und sich gegen Desinformations­kampagnen und anti­demokratische Ideologien zu schützen.

Politische Proteste nicht kriminalisieren

Politische Proteste sollten als Ausdruck demokratischer Vitalität verstanden und nicht kriminalisiert werden, solange sie nicht für extre­mistische Botschaften genutzt werden und gewaltfrei sind. Eine Verschärfung des Strafrechts, präventive Ingewahrsam­nahmen und Diffamierungen seien keine angemessene Antwort auf zivilen Ungehorsam wie etwa bei den Aktionen der Klimaaktivist:innen, argumentieren die Wissenschaftler:innen.

Handelsbeziehungen unterstützen den Frieden

Wirtschaftliche Verflechtung kann zwar keinen Frieden garantieren – aber zumindest fördern, wenn bestimmte wirtschafts­politische Abhängigkeiten, etwa im Energiesektor, vermieden werden. Die Wissenschaftler:innen warnen deshalb davor, Handelsbeziehungen und wirtschaftliche Verflechtungen, z. B. zwischen westlichen Staaten und China, vorschnell und einseitig zurückzubauen. Verhandlungen, Dialog und Handel sollten weiterhin als Mittel der Friedenssicherung dienen. Russland in bedeutenden internationalen Organisationen zu isolieren, wäre trotz des eklatanten Völkerrechtsbruchs gegenüber der Ukraine strategisch nicht zielführend. Gerade in der aktuellen Situation werden inter­nationale Austauschforen wie die UN oder die OSZE dringend benötigt, um in den Dialog über De­eskalation­smöglichkeiten zu treten und Kritik vortragen zu können.

Multilaterale Rüstungs­kontrolle stärken

Angesichts der angespannten welt­politischen Lage sollte alles getan werden, um einen Rüstungs­wettlauf und die weitere Verbreitung von Massen­vernichtungs­waffen zu verhindern und Eskalationsrisiken zu verringern. Unter anderem gilt es, insbesondere in Krisensituationen eine funktio­nierende Kommunikation und die Sicherheit von Kommando- und Kontrollstrukturen zu gewährleisten. Staaten, die bislang nicht im Zentrum der Rüstungs­kontrollpolitik standen, wie Brasilien, Indien oder China, sollten stärker als bislang eingebunden werden.

Werteorientierung in der Außen- und Entwicklungspolitik
Das Friedensgutachten 2023 fordert die konsequentere Umsetzung einer werte­orientierten feministischen Außen- und Entwicklungspolitik. Sie muss sich entschiedener als bislang positionieren und Dilemma­ta offen erörtern.

Über das Friedensgutachten

Das Friedens­gutachten ist das gemein­same Gutachten der deutschen Friedens­forschungs­insti­tute (BICC / HSFK / IFSH / INEF) und erscheint seit 1987. Wissen­schaftler­innen und Wissen­schaftler aus verschie­denen Fach­gebieten unter­suchen darin inter­nationale Konflikte aus einer friedens­strategischen Perspek­tive und geben klare Empfeh­lungen für die Politik.

Zur Website des Friedensgutachtens

Weitere Informationen und Kontakt

Pressemitteilung des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK)