Horizonte

Platkatmotiv "Stürmisches Meer"
Foto UTE BOCK/GNM

Aufbruch, Weg, Ankunft und Zukunft: Eine neue Sonderausstellung widmet sich der Vielschichtigkeit von Migration.

17.04.2023 · HP-Topnews · Germanisches Nationalmuseum · Geisteswissenschaften und Bildungsforschung · Projekte

30. März – 10. September 2023, Nürnberg

Gerhard Richters großformatiges Gemälde „Seestück“ von 1969 eröffnet die Ausstellung. Über wellenbewegtem Meer breitet sich ein wolkenverhangener Himmel aus, der Horizont liegt tief: Sehnsucht kommt auf, in die Ferne zu reisen und Neues zu entdecken. Doch der Blick übers Meer ist unscharf und somit auch im übertragenen Sinn unklar. Dem Künstler sind Aufbruch und Neuanfang vertraut. In Dresden geboren, studierte er an der dortigen Kunstakademie. 1961 floh Richter aus der DDR in den Westen. Von seinem Frühwerk ist kaum etwas erhalten, der damals knapp 30-Jährige fing in Düsseldorf noch einmal von vorne an.

Mit rund 150 Exponaten von der Ur- und Frühgeschichte bis ins 21. Jahrhundert – mit Schwerpunkt auf den letzten 200 Jahren – nimmt die große Sonderausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg die Vielschichtigkeit von Migration in den Blick. Die Ausstellung versteht Migration nicht nur als Krise, sondern als Grundbedingung für kulturelle Entwicklungen und damit wesentlichen Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Die Präsentation orientiert sich an drei Phasen von Migration - Aufbruch, Weg und Ankunft –, mit einem anschließenden Blick in die Zukunft.

„Der Blick zurück hilft uns, die Gegenwart besser zu verstehen,“ ist Generaldirektor Prof. Dr. Daniel Hess überzeugt. „Er führt Geschichten, Schicksale und Überlebensstrategien exemplarisch vor Augen, die Mut machen und helfen, aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen unter neuen Perspektiven anzunehmen.“

Aufbruch

Motivationen zum Aufbruch können sehr unterschiedlich sein. Menschen brechen auf, um Chancen wahrzunehmen, oder um Gewalt und Umweltkatastrophen zu entgehen. Manche gehen freiwillig, andere sind gezwungen. Alle eint die Hoffnung auf ein besseres Leben. Menschen waren schon im-mer unterwegs. Früheste Zeugnisse der Sesshaftigkeit – wie ein Mahl- und Reibstein, Keramikgefäße oder ein Faustkeil – datieren mehrere Jahrtausende zurück. Europäische Kultur ist Migrationskultur, ohne Migration ist das Europa von heute nicht denkbar.

In diesem Frühjahr jährt sich das Zusammentreten der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zum 175. Mal. Einer ihrer Akteure im Vorparlament war Friedrich Hecker. 1811 im Großherzogtum Baden geboren, schlug der studierte Jurist eine politische Karriere ein. Als brillanter Redner verfocht er radikale liberaldemokratische Ideen und forderte die Abschaffung der Monarchie. Enttäuscht von dem eher kompromissbereiten Charakter der Nationalversammlung, organisierte er einen bewaffneten Aufstand, den sogenannten „Heckerzug“, der jedoch niedergeschlagen wurde. Hecker, dem nun die Todesstrafe drohte, floh in die USA und begann dort mit Frau und Kindern ein neues Leben – als Weinbauer, als Politiker, der sich gegen die Sklaverei stark machte, und als erfolgreiches Senatsmitglied.

Wege

Anlässe, aufzubrechen und seine Heimat zu verlassen, haben sich über die Jahrhunderte kaum verändert. Und so ähnelt sich auch die Art ihrer Darstellung. In der Ausstellung sind historische und aktuelle Werke einander gegenübergestellt, die sich erstaunlich ähneln. Neben einem frühneuzeit- lichen Gemälde mit dem „Durchzug durch das Rote Meer“ von Frederik van Valckenborch von 1597 hängen Bilder, die Geflüchtete in Moria schufen. Das „Hope Project Art Center“ hatte dort künstlerische und kunsthandwerk-liche Programme für Menschen mit Fluchterfahrung initiiert. So entstanden 2019 Bilder von der eigenen Flucht, die das biblische Geschehen in die Gegenwart übersetzen.

Thema ist jeweils das „Wunder der Rettung“. Das Mittelmeer war schon immer ein riskant zu bereisender Raum, wie auch Darstellungen auf antiken Vasen des schiffbrüchigen Helden Odysseus verdeutlichen. Die Rezeption der Odyssee im 20. Jahrhundert zeigt, wie die antike Figur zur Projektionsfläche von Künstlern in einem von Kriegen und Zerrüttung zerstörten Europa wurde.

Dank einer privaten Stiftung konnte erstmals ein „Artist-in-Residence“-Programm für junge, zeitgenössische Künstler*innen mit Migrationshintergrund ausgeschrieben werden. Eine Jury wählte sechs Beiträge aus, die auf Werke in der Sonderausstellung reagieren und während der Laufzeit realisiert und in die aktuelle Präsentation integriert werden.

Ankunft

Die Sektion „Ankunft“ stellt exemplarisch Personen (und ein Tier) sowie Personengruppen mit Fluchterfahrung vor. Judith Kerr und – in der Literatur – Paddington der Bär, dessen Geschichte von den Kindertransportees inspiriert war, fanden in London eine neue Heimat. Zahlreiche Siebenbürgen führte Ende des Zweiten Weltkriegs die Flucht nach Deutschland. Es überrascht, was diese Volksgruppe mitnahm: Neben kostbaren Gold- und Silberschmiedearbeiten packten sie 55 schwere, großformatige Teppiche ein – und retteten damit dieses außergewöhnliche Kulturgut. Die teilweise mehrere 100 Jahre alten Textilien stammen u.a. aus dem osmanischen Kulturraum und hingen in Siebenbürgen in Kirchen. Offensichtlich waren sie im Laufe der Zeit zu identitätsstiftenden Objekten geworden. In Deutschland wurden die Teppiche dem Germanischen Nationalmuseum als Depositum übergeben. Noch heute befinden sie sich hier. Ein Forschungsprojekt hat jüngst deren Herkunft und Geschichten aufgearbeitet.

Eine Ausstellung zur Migration wäre unvollständig, konzentrierte sie sich allein auf die Vergangenheit. Eine eindringliche Installation von Ayşe Özel aus dem Jahr 2023 zeigt, was Gastarbeiterinnen aus der Türkei in den 1960er Jahren und später wichtig war. An der Wand montierte Gipsabgüsse von Händen halten das ihnen Kostbare: ein Teegeschirr, um das Ritual des Teetrinkens weiter zu pflegen, oder einen Pass, das wohl wichtigste Dokument für Aus- und Einreisen. Wo darf ich hin? Darf ich dauerhaft bleiben oder wie lange ermöglicht mir der Stempel einen Aufenthalt? Das Motiv des Passes findet sich auch im Projekt „Living Memory“ der Fotokünstlerin Catrine Val von 2020, die Aufnahmen von Überlebenden des Holocausts und deren Nachfahren schuf. Demonstrativ hält hier die Tochter jüdischer Migranten den Pass ihrer Mutter in die Kamera.

Ergänzend suchte die EduCuratorin der Ausstellung den Kontakt zur Stadtgesellschaft und entwickelte partizipative Projekte. In der Ausstellung sind die Ergebnisse eines Schulprojektes zu sehen, bei dem Schüler*innen darüber reflektierten, welche Migrationserfahrungen in der eigenen Familie Pressemitteilung existieren und sie eventuell prägten. Besucher*innen können mit eigenen Erfahrungen ergänzen.

Zukunft

Migration denkt inzwischen weit über den irdischen Horizont hinaus. Heute faszinieren Visionen von der Besiedelung des Alls, die Planungen werden immer konkreter. Die „Zukunft“ im All begann bereits in den 1960er Jahren mit den ersten Flügen zum Mond. Inspiriert haben die Wissenschaftler nicht selten die imaginierten Welten der Science-Fiction. Die Erfinder der Geschichten um Perry Rhodan, der seit 1961 durchgehend erschienenen und inzwischen weltweit erfolgreichsten Science-Fiction-Serie, nahmen bereits die Mondlandung vorweg; die ersten Reisen ins All fanden im Kopf statt. Daran knüpft sich wieder die Frage: Was will ich nicht missen? Was brauche ich, um mich woanders heimisch fühlen zu können?

Die Ausstellung zeigt Möglichkeiten auf, eine Entscheidung muss aber jede*r für sich treffen.

Weitere Informationen und Kontakt

Zur Ausstellungsseite des Germanischen Nationalmuseums (GNM)