Islam und Pandemie

Die heilige Stätte Qom im Iran, die während der Pandemie geschlossen wurde:
Foto JAVAD ESAEILI/UNSPLASH

Während Saudi-Arabien früh Schutzmaßnahmen gegen Corona einleitete, zögerte der Iran. Forschende haben analysiert, wie sich religiöse und wissenschaftliche Vorschriften zueinander verhalten.

17.08.2022 · News · Leibniz-Zentrum Moderner Orient · Geisteswissenschaften und Bildungsforschung · Forschungsergebnis

Die Pandemie hat unsere ganze Welt auf den Kopf gestellt und daraus folgende staatliche Maßnahmen haben unseren Alltag bestimmt. Doch wie beeinflusste die Religion eigentlich die Corona-Politik und das alltägliche Leben während der Pandemie in Islamischen Staaten? Ulrike Freitag und Noël van den Heuvel vom Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) veröffentlichten in dem multidisziplinären Sammelband „The MENA Region and COVID-19 – Impact, Implications and Prospects” (Routledge, 2022) einen Beitrag über den Einfluss der islamischen Religion auf das Leben während der Pandemie anhand der Fallbeispiele Iran und Saudi-Arabien.

„Religion and Pandemic – State, Islam and society in Saudi Arabia and Iran during the coronavirus crisis” analysiert die Rolle von Religion während der Covid-19 Pandemie. Er hinterfragt die allgemeine Annahme, dass Medizin und Religion im Umgang mit der Pandemie in Kontrast zueinanderstehen. Schauen sich Rationalität und Irrationalität erneut verständnislos in die Augen? Einerseits wurde das Virus durch religiöse Veranstaltungen und Pilgerfahrten vermehrt auf dem ganzen Globus verteilt. Andererseits sind religiöse Organisationen immer noch die größten Akteure in der internationalen Krisenhilfe und haben auch während der Pandemie, unter Hygienevorschriften, Krisenarbeit geleistet. Wie haben also religiös legitimierte Staaten auf die Pandemie reagiert? Und welche Maßnahmen gab es für Gläubige hinsichtlich der gemeinschaftlichen Religionsausübung? Um diese Fragen zu beantworten haben van den Heuvel und Freitag das Verhältnis von Politik und Religion und das öffentliche Verständnis von Zivilgesellschaft in den beiden Islamischen Staaten Iran und Saudi-Arabien untersucht und miteinander verglichen. 

Die beiden ZMO Forschenden gehen in ihrem Aufsatz besonders auf die religiösen Unterschiede der Bevölkerung der beiden Staaten ein. Während im Iran die Mehrheit der Bevölkerung der Islamischen Strömung der Schiiten angehört, ist ein Großteil der Bevölkerung in Saudi-Arabien wahhabitisch-sunnitisch. Dieser Glaubensunterschied spiegelt sich auch deutlich im Umgang mit der Pandemie wider. Schiitische Muslime glauben, dass heilige Orte Gläubige heilen und isoliert sind gegen Krankheiten wie Covid-19. Wahhabitische Sunniten dagegen praktizieren eher einen entmystifizierten Islam, der keine selbstverständliche Heilung durch heilige Orte oder heilige Menschen gewährt. Aber auch die wirtschaftliche Situation und die politischen und sozialen Strukturen der beiden Länder prägen die Corona-Politik der beiden Staaten auf unterschiedliche Art und Weise. Vor allem das politische System des Irans, mit seinen mehreren Machtzentren, spielte eine entscheidende Rolle während der Pandemie. 

Während die saudi-arabische Regierung bereits früh mit schützenden Maßnahmen begonnen hat, wurde im Iran noch gezögert. So wurden erst am 16. März, nachdem bereits 853 Menschen im Iran an dem Virus starben, die heiligen Stätten in Qom, Mashhad und Tehran geschlossen. Die oberste religiöse, saudische Autorität Shaykh ‘Abdulaziz Bin ‘Abdullah Al al-Shaykh hingegen überzeugte die Bevölkerung des Landes mit dem Argument, dass der Schutz des Lebens und des menschlichen Körpers ein wichtiger Aspekt der islamischen Religion ist. Insofern erreichte Saudi-Arabien, dass sich die meisten Bewohner schon frühzeitig an die offiziell verordneten Maßnahmen hielten und diese sogar unterstützen. Auch konnte der saudi-arabische Staat sich weitreichendere Maßnahmen im Gegensatz zum Iran finanziell leisten. Die iranische Wirtschaft ist ohnehin schon geschwächt, und es gab kein finanzielles Auffangsystem während der Pandemie. Junge Iraner*innen protestierten bereits vor der Pandemie aufgrund der wirtschaftlichen Situation im Land. Eine radikale Verschärfung dieser Situation wäre für die iranische Regierung nicht tragbar gewesen. „Religion and pandemic” gibt den Lesenden ein neues Verständnis für das Zusammenspiel zwischen Glauben, Politik und Wirtschaft und wie diese Aspekte das alltägliche Leben der Zivilgesellschaft bestimmen. Vor allem aber wird deutlich, welche unterschiedlichen Perspektiven es gibt, wie religiöse und wissenschaftliche Vorschriften in Bezug zueinanderstehen.

Der Fokus des Sammelbands liegt auf der Region des Mittleren Ostens und Nordafrika (MENA Region), welche einige der reichsten und ärmsten Länder dieser Erde vereint. Somit wird den Lesenden ein tiefer Einblick in die diskriminierenden Konsequenzen der Covid-19 Pandemie ermöglicht. Die Analysen des Buchs umfassen Geopolitik, soziale Aspekte und die Beziehung zwischen Politik und Zivilgesellschaft im Hinblick auf die Pandemie und wie die Region zukünftig von der Krise geprägt sein wird.

Originalpublikation im Open Access

Van den Heuvel, Noël und Freitag, Ulrike: Religion and pandemic – State, Islam and society in Saudi Arabia and Iran during the coronavirus crisis, in: Hobaika, Möller und Völkel, Jan Claudius (Hrsg.), The MENA Region and COVID-19 – Impact, Implications and Prospects, London, 2022 S. 107-124

Weitere Informationen und Kontakt

Website des Leibniz-Zentrums Moderner Orient (ZMO)