Schwindendes Eis

Zugefrorener See auf Island, im Hintergrund schneebedeckter Berg
Foto SERGEY PESTEREV/WIKIMEDIA COMMONS

Unter gefrorenen Seen wachsen spezielle Algen, die eine Nahrungsquelle für tierische Organismen sind. Werden die Winter wärmer, verändert sich die Planktondynamik – mit Folgen für das gesamte Nahrungsnetz im See.

07.04.2021 · Umweltwissenschaften · Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei · News · Forschungsergebnis

Seen in arktischen oder borealen Gebieten sind normalerweise einige Monate lang von Eis bedeckt. In diesen Seen gibt es spezialisierte Algen (Phytoplankton), die bereits unter dem Eis wachsen und die Frühjahrsblüte dominieren. Sie dienen tierischen Organismen (Zooplankton) als wichtige Nahrungsquelle. Mit der Abfolge von Frühjahrsblüte, Zooplanktonpeak und Sommerblüte hat die saisonale Planktondynamik einen großen Einfluss auf das gesamte Nahrungsnetz in Seen. Doch die Eisbedeckung von Gewässern nimmt durch den Klimawandel weltweit ab. Wie sich der Rückgang der Winterperiode auf das Zusammenspiel von Phyto- und Zooplankton auswirkt, ist noch nicht ausreichend erforscht. Dabei zeigt eine neue Studie, dass die im Mittel abnehmende Dauer der Eisbedeckung abrupte Veränderungen in der Planktondynamik zur Folge haben kann.

IGB-Forscherin Sabine Wollrab hat zusammen mit Kolleg*innen aus Russland und den USA ein saisonal gesteuertes Nahrungsnetzmodell entwickelt, das den Wechsel zwischen eisbedeckten und eisfreien Phasen einbezieht. Es soll Aufschluss darüber geben, wie sich die graduelle Abnahme der Eisbedeckungszeit auf die Frühjahrsalgenblüte, die saisonale Planktondynamik und damit auf das gesamte Nahrungsnetz auswirkt.

Das saisonale Zusammenspiel von Phyto- und Zooplankton

Wie die Vorhersagen dieses Modells zeigen, hat vor allem die von der Frühjahrsblüte abhängige Zooplanktonentwicklung große Auswirkungen auf die saisonale Dynamik im Folgejahr. „Eine starke Winteralgenblüte im Frühjahr führt zu einer starken Zooplanktonentwicklung. Das erhöht nicht nur den Fraßdruck auf das Sommerphytoplankton, sondern auch auf das Winterphytoplankton im darauffolgenden Winter und schränkt dessen Entwicklung ein. Im Folgejahr kann sich dadurch die Winteralgenblüte im Frühjahr verzögern oder sie bleibt sogar ganz aus – dem Zooplankton steht weniger Nahrung zur Verfügung. Eine geringere Zooplanktonentwicklung bedeutet dann weniger Fraßdruck auf das Phytoplankton und ermöglicht wieder eine starke Winteralgenblüte im darauffolgenden Frühjahr“, erklärt Sabine Wollrab. Solche mehrjährigen Zyklen sagt ihr Modell über weite Bereiche von Eisbedeckungszeiten voraus.

„Wir sehen, wie sich diese mehrjährige Dynamik verändert, wenn die Winter wärmer werden“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Speziell die Winteralgenblüte im Frühjahr ist stark von der Eisbedeckungszeit abhängig. Hier sagt das Modell mit abnehmender Eisbedeckungsdauer einen Wechsel von jährlichen, ausgeprägten Frühjahrsblüten zu einem Ausbleiben der Frühjahrsblüte in jedem zweiten Jahr bis zum völligen Verschwinden der Winteralgenblüten voraus.“ Durch das komplexe Zusammenspiel zwischen Phytoplankton und Zooplankton könne es selbst bei kleinen Änderungen in der Eisbedeckungszeit zu abrupten Wechseln in der saisonalen Planktondynamik kommen, sogenannten Regimewechseln.

Modellvorhersagen am Beispiel des Baikalsees belegt

Die Modellvorhersagen zur Planktondynamik verglichen die Wissenschaftler*innen mit Langzeitdaten des sibirischen Baikalsees (Russland). Die Eisbedeckungszeiten des Baikalsees haben sich im letzten Jahrhundert von im Mittel 120 Tagen auf nur noch 105 Tage pro Jahr verkürzt. Wie die Datenanalyse belegt, veränderte sich zwischen den 1950er und 1990er Jahren die saisonale Dynamik und speziell die Häufigkeit von intensiven Frühjahrsblüten signifikant. Außerdem hat sich der Zeitpunkt der Frühjahrsblüte im Jahresverlauf um fast einen Monat in Richtung Sommer verzögert.

Von dem Rückgang sind insbesondere die Winterspezialisten im Baikalsee, zumeist endemische Kieselalgenarten, betroffen. „Wir konnten zeigen, dass die abnehmende Eisbedeckungszeit zu einem Regimewechsel geführt hat – von regelmäßigen, ausgeprägten und durch endemische Winterplanktonarten dominierten Frühjahrsblüten in den 1950er Jahren hin zu einer Häufung von Jahren ohne ausgeprägte Winterplanktonblüten und zeitlich verschobenen Frühjahrsblüten in den 1990er Jahren“, fasst Sabine Wollrab zusammen.

Modell mit Potenzial

„Unser mechanistisches Verständnis zur saisonalen Planktondynamik basiert bisher vor allem auf nicht-dynamischen Modellen wie dem Plankton Ecology Group (PEG) Modell, das von einer sich jährlich wiederholenden Dynamik ausgeht“, kritisiert die Forscherin. Dabei sind gerade die interannuellen Kopplungen entscheidend, um die Auswirkungen von Umweltveränderungen auf biotische Wechselwirkungen zu verstehen.

„Unsere Erkenntnisse können helfen, das etablierte Plankton Ecology Group (PEG) Modell zur saisonalen Dynamik in Seen weiterzuentwickeln“, stellt Sabine Wollrab in Aussicht. Weiterentwicklungen des Modells würden auch die Erforschung von Veränderungen in der Planktondynamik von Seen in gemäßigten Breiten ermöglichen, deren Eisbedeckung deutlich kürzer ist und infolge der Klimaerwärmung immer häufiger ganz ausbleibt.

Publikation

Sabine Wollrab, Lyubov Izmest’yeva, Stephanie E. Hampton, Eugene A. Silow, Elena Litchman, and Christopher A. Klausmeier (2021): Climate Change–Driven Regime Shifts in a Planktonic Food Web. In: The American Naturalist 2021 197:3, 281-295.

Weitere Informationen und Kontakt

www.igb-berlin.de