Zeitreise in die Ostsee-Vergangenheit
Den Blick auf kleinste maritime Lebewesen richtet ein neues Forschungsnetzwerk: Wie hat sich das Phytoplankton über die Jahrtausende verändert – und was heißt das für den Klimawandel?
05.05.2021 · Lebenswissenschaften · Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung · News · Projekte
Der Klimawandel bedroht die Artenvielfalt in den Meeren und Ozeanen und damit auch die Stabilität mariner Ökosysteme. Schon jetzt zeigt das Phytoplankton – photosynthetisch aktive Kleinstlebewesen an der Basis des ozeanischen Nahrungsnetzes – erste Veränderungen. Das Anfang Mai gestartete, vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde geleitete Forschungsnetzwerk PHYTOARK, an dem das Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum beteiligt ist, will mithilfe neuester Methoden der Paläoökologie und Biodiversitätsforschung bis zu 8.000 Jahre zurückschauen und durch natürliche Klimaschwankungen bedingte Veränderungen des Ostsee-Phytoplanktons rekonstruieren. Der Blick in die Vergangenheit soll helfen, zukünftige Klimawandelfolgen besser abzuschätzen.
Die Sedimente der Ostsee sind wie ein gut sortiertes Archiv: Spuren der Vergangenheit werden hier eingelagert, deren Alter gut datierbar ist und die Rückschlüsse über die jeweiligen Lebensgemeinschaften von Phytoplankton erlauben. Welche Phytoplanktongemeinschaften zu verschiedenen Zeiten in der Ostsee gelebt haben und welche Umweltbedingungen dabei jeweils herrschten, steht im Fokus des neuen, internationalen Forschungsprojektes PHYTOARK. Das Vorhaben wird für drei Jahre mit rund 1 Million Euro von der Leibniz-Gemeinschaft im Rahmen des Leibniz-Wettbewerbs, Programm „Kooperative Exzellenz“ gefördert. Beteiligt sind zehn Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Finnland, Schweden und den USA, darunter als Hauptpartner das Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt sowie die Universitäten Hamburg und Konstanz; geleitet wird das Projekt vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde (IOW).
„In den rund 8.000 Jahren, in denen die Ostsee als Brackwassermeer existiert, gab es mehrere Wärmeperioden – natürliche Klimaschwankungen – mit Erwärmung in einer Größenordnung, die mit dem heutigen menschgemachten Klimawandel vergleichbar ist“ erläutert Dr. Anke Kremp Phytoplanktonökologin am IOW und Leiterin des Forschungsnetzwerks. „Wir wollen verstehen, wie das Phytoplankton auf diese Umweltveränderungen reagiert hat. Diese Informationen können dann in computergestützte Simulationen einfließen, die Aufschluss darüber geben, wie das Phytoplankton der Zukunft funktioniert“.
Die daraus resultierenden Erkenntnisse sind wiederum zur Abschätzung der Klimawandelfolgen für das gesamte Ökosystem Ostsee äußerst wertvoll, denn wenn es an der Basis des Ostsee-Nahrungsnetzes Veränderungen gibt, setzen sich die Auswirkungen bis in höhere Ebenen – beispielsweise bei den Fischbeständen – fort. Daher ist auch die HELCOM (Helsinki-Kommission zum Schutz der Ostsee) in das PHYTOARK-Netzwerk eingebunden, um einen Bewertungsrahmen für Klimawandelfolgen mitzuentwickeln, der die Erkenntnisse zu klimabedingten Auswirkungen auf Phytoplanktondiversität und -funktion in der Vergangenheit berücksichtigt.
PHYTOARK setzt auf einen neuartigen multidisziplinären Ansatz, der modernste Paläoumweltforschung und Biodiversitätsforschung sowie experimentelle Planktonökologie und Ökosystemmodellierung kombiniert. „Wir werden aus Sedimentproben der Ostsee sogenannte Umwelt-DNA extrahieren und analysieren, also die Erbinformation all der Organismen, deren Überreste sich im Lauf der Jahrtausende in den verschiedenen Schichten abgelagert haben.“, umreißt Prof. Dr. Miklós Bálint, Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum, LOEWE Zentrum für Translationale Biodiversitätsgenomik und Justus-Liebig-Universität Gießen das von ihm geleitete Teilprojekt. So können sehr lange DNA-Zeitreihen erstellt werden, die zeigen, wie sich die Artenvielfalt und Funktion der Phytoplanktongemeinschaften verändert haben.
Als praktische Vorarbeit wurden bereits im April bei einer Expedition mit dem IOW-Forschungsschiff Elisabeth Mann Borgese Sedimentkerne aus der zentralen Ostsee und dem Finnischen Meerbusen gezogen, die als Archive der Vergangenheit ausgewertet werden sollen sowie Wasserproben genommen, um Referenz-Werte für den heutigen Zustand zu gewinnen.
Außerdem wollen die an PHYTOARK beteiligten Wissenschaftler*innen durch Paläogenomik, der Rekonstruktion alten Erbgutes bestimmter Schlüsselarten, herausfinden, wie klimabedingte Umweltveränderungen zu evolutionären Anpassungen geführt haben. Die Forscher*innen wollen dazu jahrhunderte- bis jahrtausendealte Phytoplankton-Populationen aus ihrem „Dornröschenschlaf“ wecken. Dabei handelt es sich um Ruhestadien, die gebildet werden, um Zeiten widriger Bedingungen zu überdauern. Sie können unter günstigen Bedingungen wiederbelebt werden, um sie physiologisch zu charakterisieren und mit heutigen Populationen zu vergleichen. Durch die Analyse verschiedener organischer und anorganischer Sedimentbestandteile werden zusätzlich Rückschlüsse über frühere Salzgehalte, Sauerstoff- und Temperaturverhältnisse möglich.
„Mit den PHYTOARK-Partnern bringen wir erstmals all die Expertise in einem Netzwerk zusammen, die für eine derart ganzheitliche Erforschung von planktischer Vielfalt und Klimaveränderungen in der Ostsee-Vergangenheit nötig ist. Auch die konsequente Integration von Strategien, um unsere Erkenntnisse für die ökologische Bewertung der Ostsee-Zukunft zu nutzen, macht unseren Ansatz neu und vielversprechend“, kommentiert PHYTOARK-Netzwerkleiterin Kremp abschließend.