Vortrag · Berlin

24.04.2024 · 18:30
Neue Perspektiven auf vormoderne europäische Ortslegenden

Foto EIKE BECKER_ARCHITEKTEN

Vormoderne Legenden und Sagen finden in den Literaturwissenschaften nur wenig Aufmerksamkeit. Jacob und Wilhelm Grimms zweibändige Ausgabe der Deutschen Sagen (1816/1818) beispielsweise steht völlig im Schatten ihrer berühmten Kinder- und Hausmärchen. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass Sagen das Nachleben von Fragmenten einer vorchristlichen Kosmologie bezeugen und Jacob Grimm den Weg zur Deutschen Mythologie (1835) gewiesen hätten. Selbst fortschrittliche Studien zu europäischen Volkskulturen (z.B. von Carlo Ginzburg) konnten sich dieser Auslegungstradition nicht entziehen.

In diesem Vortrag wird demgegenüber eine neue Lesart speziell der Ortslegenden vorgeschlagen, kurzen mündlich überlieferten Geschichten, in denen Ortsnamen erklärt oder kuriose Ereignisse aus der Gegend erzählt werden. Darin werden Begegnungen zwischen gewöhnlichen Menschen und außergewöhnlichen, scheinbar unerklärlichen Ereignissen und Phänomenen mithilfe konventioneller Topoi (Kobolde, Wassergeister, Wechselbälge usw.) dargestellt. Diese Narrative vermitteln allerdings weder ausgestaltete Handlungen noch Kosmologien, sondern stellen leibliche und affektive Erfahrungen von Alterität dar. Insofern ist ihnen in der Vorgeschichte der modernen Erzählliteratur eine wichtige Rolle zuzuweisen.

Christopher Wood ist Professor am Department of German der New York University und 2023/24 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Veranstaltungsort:

Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Eberhard-Lämmert-Saal, Eingang Meierottostr. 8, 10719 Berlin