Durch die Allgegenwart des Internets und die zunehmende Vernetzung von Personen, Objekten und Nachrichten wird unsere gesamte Umgebung immer mehr zur Informations- und Wissensumwelt. Doch die Informationen, mit denen wir in der realen Welt konfrontiert sind, sind in ihrer Art und Qualität häufig sehr heterogen. Sie reichen von wissenschaftlich gesicherten Hinweisen über werbliche Aussagen bis hin zu bewusst verfälschten Auskünften und Fake News. Sowohl Kinder als auch Erwachsene müssen lernen, kompetent mit dieser Informationsvielfalt umzugehen und in ihrer Wissensumgebung selbstständig und wirkungsvoll zu handeln. Formale Bildungsorte wie Schule und Hochschule müssen Lernmöglichkeiten, -situationen und -räume einbeziehen, die sie auf diese Anforderungen vorbereiten. Der klassische Unterricht, in dem die Schülerinnen und Schüler den ganzen Tag im Klassenverbund in einem Raum verbringen und nur mittelbar Kontakt zur »realen Welt« haben, kann und muss durch interaktivere Lernformen ergänzt werden.
Doch nicht nur die Schule wird sich verändern. Auch für die Wissenschaft stellt sich ganz neu die Frage, wie sie Forschungsergebnisse vermittelt. Wie lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse so aufbereiten, dass sie trotz der Vielzahl an Informationen insgesamt bei den Bürgerinnen und Bürgern Gehör finden? Wie kann die Wissenschaft bei den Menschen das Interesse wecken, sich auch mit komplexen Zusammenhängen in der notwendigen Tiefe auseinanderzusetzen? Welche neuen Formate machen es für Bürgerinnen und Bürger einfacher, sich auch zu vielschichtigen Themen eine reflektierte Meinung zu bilden und selbst am gesellschaftlichen Dialog teilzunehmen? Zur Demokratie gehört es schließlich, dass Bürgerinnen und Bürger auch zu hochkomplexen Fragen Stellung nehmen können.
Citizen Science, also die Bürgerwissenschaft, ist ein solches Format, das Menschen Wissen vermitteln und ihnen den Zugang zu Wissenschaft ermöglichen kann. Citizen Science ist ein bewährtes Konzept. Schon seit Langem tragen Bürgerinnen und Bürger zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bei, indem sie z. B. Naturphänomene beobachten, sie experimentell erforschen und dokumentieren oder sich an Vogelzählungen beteiligen. Durch die Partizipation am Wissenschaftsprozess erleben die Bürgerwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dieses Format per se als sehr interaktiv und erlebnisnah. Neue Technologien haben die Beteiligungsmöglichkeiten in den letzten Jahren stark erweitert. Die Bürgerinnen und Bürger können heute ortsunabhängig an vielfältigen Studien mitwirken. Sie können Daten beispielsweise über Smartphone-Apps und Online-Meldeportale sammeln und erfassen, im Internet Bilder sortieren oder andere Phänomene klassifizieren. In manchen Forschungsbereichen sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittlerweile auf diese Form der Bürgerbeteiligung angewiesen, da sich bestimmte Daten anders gar nicht erheben lassen.
Die Wissenschaft muss sich immer öfter der Diskussion um ihre Berechtigung stellen. Die Forderung, die Bevölkerung stärker an ihr teilhaben zu lassen, wird durch das wachsende Mitwirken von Laienforscherinnen und -forschern erfüllt. Befürworterinnen und Befürworter von Citizen Science sehen im Mitforschen von Bürgerinnen und Bürgern und die dadurch geschaffene Transparenz einen Weg zu mehr Akzeptanz. Der Bürgerforschung wird großes Potenzial zugesprochen, bei Bürgerinnen und Bürgern ein Verständnis für Wissenschaft zu erwecken, sie für die Qualität von Informationen zu sensibilisieren und dazu anzuregen, über komplexe Sachverhalte nachzudenken. Allerdings stellt sich die Frage, ob Citizen Science die hohen Erwartungen an sie tatsächlich erfüllt: Entwickeln die forschenden Laien durch die eigene Beteiligung wirklich ein besseres Verständnis für die Forschung und Forschungsprozesse im Allgemeinen? In welchem Maß erwirbt der Bürgerwissenschaftler oder die Bürgerwissenschaftlerin spezifisches Fachwissen? Regt die Beteiligung an Citizen Science-Projekten tatsächlich eine Reflektion über Themen an? Nutzen die Beteiligten das Wissen weiter? Erste Ergebnisse der empirischen Forschung sind eher ernüchternd: Demnach entsteht bei den Laienforscherinnen und -forschern häufig kein oder nur ein sehr begrenztes Verständnis des Gegenstandes.
Noch ist völlig offen, inwieweit sich das Bild der Bürgerin bzw. des Bürgers von der Wissenschaft in die gewünschte Richtung verändert oder ob nicht vielmehr die Wissenschaft trivialisiert wird. Während also Citizen Science derzeit politisch erwünscht ist und stark gefördert wird, steht die Forschung zu möglichen Wissens- und Reflektionsprozessen durch die Beteiligung an Citizen Science noch ganz am Anfang.
Für die Leibniz-Gemeinschaft ist das eine besondere Herausforderung, spiegelt das Thema doch ihren Leitsatz »theoria cum praxi« (Theorie mit Praxis) wider. Den empirischen Nachweis zu bringen, was Citizen Science leisten kann und was nicht — dafür ist die Leibniz-Gemeinschaft prädestiniert. Ihre Institute können anhand verschiedenster Citizen-Science-Projekte in unterschiedlichen Disziplinen empirisch untersuchen, inwieweit die Bürgerwissenschaft die an sie gestellten Erwartungen erfüllen kann, inwiefern Bürgerinnen und Bürger dadurch Wissenschaft besser verstehen und inwieweit sich die Wissenschaft selbst durch Citizen Science verändert.