
IV · Landwirtschaft 4.0: Chancen und Risiken für eine nachhaltige Agrarwirtschaft
Ein Beispiel dafür ist das Projekt Landwirtschaft für Artenvielfalt, das in kleinem Format demonstriert, wie Beiträge zum Artenschutz für Verbraucher sichtbar werden können. Ziel des Fallbeispiels ist es aufzuzeigen, welche Potenziale es darüber hinaus noch gibt. Dank des breiten disziplinären Spektrums der Leibniz-Gemeinschaft ist es möglich, das Projekt im Ansatz zu erweitern und neue Fragestellungen zu bearbeiten. Solche weitergehenden Aspekte sind: Mit welchen Informationen über die Produktionsbedingungen lassen sich Konsumentenentscheidungen beeinflussen? Wie wirkt diese Informationskette auf die landwirtschaftlich Tätigen und ihre Expertise? Wie ist es möglich, Konsumentenentscheidungen in die Produktion von Lebensmitteln zurückzuspielen, um gezielt Lebensmittel herzustellen und Bewirtschaftungsverfahren umzusetzen, die den gewünschten Kriterien entsprechen? Auf Grundlage des Projekts Landwirtschaft für Artenvielfalt können die Leibniz-Einrichtungen darüber hinaus die Chancen und Risiken der Digitalisierung für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion interdisziplinär betrachten.
Fallbeispiel IV
Katharina möchte kurzfristig Lebensmittel einkaufen und loggt sich deshalb in ein Online-Geschäft ein. Die virtuelle Ladenfläche bietet eine große Auswahl unterschiedlichster Produkte. Mit einem »Mouseover« kann sie sich Herkunft, Produktionsmethode, Verarbeitung, Inhaltsstoffe und weitere Informationen anzeigen lassen. Ein Rechtsklick öffnet einen Link z. B. zum entsprechenden Bauernhof und dessen Flächen. Bei einem Produkt, einem Käse, fallen Katharina auf einem Livebild viele Bienen und auch ein leises Summen auf. Sie erfährt, dass der landwirtschaftliche Betrieb eine Bewirtschaftungsmethode eingeführt hat, durch die er die Biodiversität um ein Vielfaches erhöhen konnte. Sensoren auf den Flächen und Luftaufnahmen beweisen das.
Während sich Katharina durch weiterführende Links klickt, stößt sie auf ein Herkunfts-Siegel zur Kennzeichnung von Gemüse, Obst, Fleisch, Brot und anderen Lebensmittel, die mit ähnlich nachhaltigen Bewirtschaftungsmethoden produziert werden. Sie entdeckt, dass es ein weltweites Netzwerk derartiger Betriebe gibt und sich einer davon sogar ganz in ihrer Nähe befindet. So kann sie sicher sein, dass die eingekauften Waren nicht nur nachhaltig, sondern auch regional produziert wurden.
Das Fallbeispiel zeigt, welche Möglichkeiten die Digitalisierung bietet. Sie fördert nachhaltige Bewirtschaftungsweisen, ermöglicht regionale und globale Vernetzung und unterstützt so den Verbraucher dabei, sich gesund, bewusst und ökologisch nachhaltig zu ernähren.
Viele Verbraucher sind überfordert von der Fülle an Informationen, die mit Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung und -handel zu tun haben. Die Digitalisierung bietet die Chance, hier wissens- und faktenbasiert Orientierung zu geben und individuell auf die unterschiedlichen Wünsche der Konsumenten einzugehen. Zugleich kann sie die Umweltleistungen der landwirtschaftlichen Produktion in-wert-setzen und somit neue Entscheidungsgrundlagen für die Landwirte bieten. Voraussetzung ist, dass alle notwendigen Informationen in einer sicheren Datenstruktur zusammengeführt und kommuniziert werden können. So lassen sich gewünschte und unerwünschte Umweltwirkungen der Lebensmittelproduktion nachvollziehen und steuern — beispielsweise kann gezielt die Biodiversität gefördert werden. Eine solche Vernetzung von Informationen bietet nicht nur neue Möglichkeiten für das wissenschaftliche Arbeiten. Aus ihr ergeben sich auch neue Geschäftsmodelle und Ansätze für die Führung eines entsprechenden Betriebs. Als Innovationsbremsen wirken momentan allerdings der unklare Rechtsrahmen und Sorgen um potenziellen Datenmissbrauch.
Der Leibniz-Forschungsverbund Nachhaltige Lebensmittelproduktion und gesunde Ernährung sowie die Leibniz-Institute, die bereits zum Thema Industrie 4.0 arbeiten, verfügen gemeinsam über alle Fachkenntnisse, die für eine Digitalisierung der Lebensmittelproduktion erforderlich sind. Sie sind in ihren jeweiligen Bereichen mit den Aspekten des beschriebenen Fallbeispiels seit vielen Jahren vertraut und wissenschaftlich erfolgreich. Darüber hinaus verfügen sie über Erfahrungen in inter- und transdisziplinärer Forschung.
Dieses Fallbeispiel eröffnet vielfältige Perspektiven, unter anderem wird ein neues Verständnis von einer nachhaltigen Lebensmittelerzeugung gefördert und die Akteure in der Wertschöpfungskette erhalten wissensbasierte Handlungsempfehlungen.
Wer mehr über Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung und -handel wissen will, ist angesichts der vielen und teils widersprüchlichen Informationen schnell überfordert. Die Digitalisierung schafft Instrumente, die Konsumenten beim Umgang damit und bei einer Entscheidungsfindung helfen können. Die Landwirtschaft ist stark von externen Einflüssen wie dem Wetter, einem Schädlingsbefall, aber auch den Marktpreisen abhängig. Gleichzeitig ist sie darauf angewiesen, dass die notwendigen biologischen Prozesse einwandfrei ablaufen. Das macht landwirtschaftliches Handeln hochkomplex — über verschiedene Domänen hinweg — und damit zu einem idealen Fallbeispiel für neue Methoden der Datenwissenschaften. Darüber hinaus kann eine Agrar- und Ernährungswirtschaft durch die Nutzung der Möglichkeiten der Digitalisierung und so gewonnener Erkenntnisse zum Erreichen nachhaltiger Entwicklungsziele beitragen. So kann die Absicht vieler Konsumenten, sich gesund mit nachhaltig und regional erzeugten Lebensmitteln zu ernähren, durch digitale Mittel unterstützt werden. Bei aller berechtigten Euphorie im Zusammenhang mit der digitalen Transformation werden die Risiken bisher kaum diskutiert (z. B. Datenrecht, Verlust von Erfahrungswissen), die bei den potenziellen Nutzern zu Verunsicherung und Ablehnung führen können.
Ziel der Digitalen Landwirtschaft 4.0 ist es daher, Methoden zu entwickeln, mit denensich Produktionsprozesse intelligent und sicher vernetzen und vom realen Gesellschafts-/Kunden-/Marktinteresse ausgehend steuern lassen. Eine zentrale Voraussetzung dafür ist die Einrichtung einer gesicherten Dateninfrastruktur. Die Landwirtschaft 4.0 baut auf den Innovationen und Erfahrungen der Industrie 4.0 auf und entwickelt sie weiter — gemäß den speziellen Anforderungen der bioökonomischen, also der biomasse-basierenden Wertschöpfungsnetze. Einerseits ist die Landwirtschaft durch die Nutzung der natürlichen Umwelt zufallsbedingten Effekten ausgesetzt, die sich durch die zunehmenden Folgen des Klimawandels noch verstärken werden. Andererseits haben landwirtschaftliche Vorgehensweisen zum Teil sehr unmittelbare Auswirkungen auf die Umwelt. So gilt beispielsweise eine hohe Biodiversität auf der einen Seite als Mittel, um die Resilienz gegen unvorhergesehene Ereignisse zu steigern. Sie bedeutet aber auf der anderen Seite, dass u. U. bewusst auf Höchsterträge verzichtet und das Agrarmanagement komplexer wird. Bei der landwirtschaftlichen Tierhaltung spielt zusätzlich der Aspekt des Tierwohls eine sehr wichtige Rolle.
Das Ziel dieses Fallbeispiels ist es, anhand ausgewählter Lebensmittel-Wertschöpfungsketten (Produktion, Verarbeitung, Distribution, Verbrauch) zu analysieren, welche Chancen der digitale Wandel dadurch bietet, dass sich Produktionsprozesse besser steuern lassen:
a) Wie kann mittels Digitalisierung die Ressourcennutzung durch Koordination, Kommunikation und Nachverfolgbarkeit innerhalb der Wertschöpfungsketten verbessert werden?
b) Wie lässt sich damit die Produktion in Bezug auf Ökosystemleistungen, Biodiversität und Tierwohl optimieren?
c) Welche Chancen bietet die digitale Transformation hinsichtlich eines zirkulären Stoffstrommanagements, um unerwünschte Umweltwirkungen wie beispielsweise Nitratauswaschungen durch eine wissensbasierte und bedarfsorientierte Prozesssteuerung zu reduzieren?Als erstes Beispiel kann die Fleischproduktion dienen, bei der die Wertschöpfungskette vom Feld bis zum Supermarkt abgebildet und die Maßnahmen zur Erhöhung der Biodiversität nachvollziehbar gemacht werden (siehe dazu auch das Projekt Landwirtschaft für Artenvielfalt am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF)).
In diesem Fallbeispiel können die Ansätze aus dem Projekt Landwirtschaft für Artenvielfalt derart erweitert werden, dass leichter Rückschlüsse von den Interessen der Konsumenten bzw. der Gesellschaft auf die Produktion gezogen werden können. Das Fallbeispiel hat eine produktionsorganisatorische und eine technische Ebene. Für die produktionsorganisatorische Ebene werden umfangreiche und zum Teil völlig neue Daten von der Produktion bis zum Konsumenten mit spezifisch anzupassenden datenwissenschaftlichen Methoden analysiert. Untersucht werden sollen Landwirtschafts- und Verarbeitungsbetriebe, die eine breite Produktpalette abdecken. Weiterhin werden verschiedene Vertriebswege und Einzelhändler einbezogen — von Direktvertrieb bis zum Discounter. Die verfügbaren Umweltparameter werden analysiert und Möglichkeiten der Vernetzung bis zum Konsumenten ausgearbeitet. Mit den Daten werden ökologische, betriebswirtschaftliche und sozioökonomische Auswirkungen von verschiedenen Produktionssystemen bei unterschiedlichem Konsumenten-/Einkaufsverhalten ermittelt. Dabei werden Risiken und ethische Probleme identifiziert und Lösungsansätze aufgezeigt.
Im technischen Teil des Fallbeispiels soll es vor allem darum gehen, die Vielzahl der Sensoren, die entlang der Wertschöpfungskette Informationen erfassen, dafür zu nutzen, die jeweiligen Einzelmaßnahmen im Gesamtprozess zu beschreiben und zu bewerten. Ziel ist es, Lücken innerhalb der Informationsketten durch Weiterentwicklung der Sensortechniksowie die Auswahl und Analyse von Indikatoren zur Erfassung von Ökosystemleistungen, Biodiversität und Tierwohl zu schließen. Hierzu sind horizontale und vertikale Kommunikationsnetzwerke zwischen den Gliedern der gesamten Wertschöpfungskette aufzubauen.
Innerhalb der deutschen Forschungslandschaft beheimatet die Leibniz-Gemeinschaft die größte Anzahl an anwendungsorientierten Agrarforschungsinstituten. Hier werden die relevanten Herausforderungen der Praxis mit Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung verknüpft. Dabei wird die Expertise zur digitalen Landwirtschaft im Leibniz-Forschungsverbund Nachhaltige Lebensmittelproduktion und gesunde Ernährung gebündelt. Gemeinsam mit Leibniz-Instituten aus dem angewandten technologischen Bereich mit Erfahrung in der Industrie 4.0 brachte sich der Verbund im Mai 2016 mit einem Positionspapier in die öffentliche Diskussion zur Digitalisierung in Land- und Ernährungswirtschaft ein. Dank der Vielfalt und Größe ihrer Infrastrukturen können die Institute der Leibniz-Gemeinschaft das Themenfeld Landwirtschaft 4.0 interdisziplinär in der notwendigen Tiefe und Breite analysieren und hoch innovative Lösungen erarbeiten. In allen beteiligten Instituten erfolgten bereits erhebliche Vorarbeiten zu Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) in der Landwirtschaft, die in dieses Fallbeispiel einfließen werden.
Innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft bilden folgende Institute eine Keimzelle zum Thema Landwirtschaft 4.0: das bereits erwähnte ZALF, das Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB), das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) und das Leibniz-Institut für innovative Mikroelektronik (IHP). Fachkenntnisse im Bereich der Systembetrachtung von Produktionssystemen haben ZALF und ATB. Im ZALF liegt der Fokus auf der Erfassung von Ökosystemleistungen und Biodiversität im Agrarproduktionssystem. Eine Stärke des Instituts liegt auch in der Analyse der sozioökonomischen Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund, dass Ökosystemleistungen bedarfsabhängig sind. Das ATB konzentriert sich vor allem auf Aspekte der technischen Systembewertung einzelner Verfahren bei Produktion, Ernte und Erstverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Ein weiterer Fokus liegt auf der technischen Entwicklung von Messprinzipien und Sensor-Daten-Analysen sowie auf der Entwicklung von Automatisierungsstrategien und Robotik. Die Nachwuchsgruppe Data Science in Agriculture stellt dazu analytisch-methodische Kompetenz speziell zu maschinellem Lernen bereit. Am PIK werden Landwirtschaft, Landnutzung und Biomasseproduktion großskalig modelliert und Zukunftsszenarien zu Klimawandel und nachhaltiger Entwicklung analysiert. Ein wichtiges Forschungsthema ist hierbei, inwiefern neue digitale Technologien die Anpassung an den Klimawandel verbessern können. Das IHP besitzt Expertise in der Entwicklung von neuen Sensoren und der Vernetzung von Monitoring-Netzwerken.
Diese Kerngruppe an Leibniz-Einrichtungen wird ergänzt durch das Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau (IGZ), das Deutsche Institut für Ernährungsforschung (DIfE) und das Leibniz-Institut für Nutztierbiologie (FBN). Zentrale universitäre Partner sind die Humboldt-Universität zu Berlin, die Technische Universität Berlin, die Freie Universität Berlin und die Universität Potsdam. Mit ihnen sind die Kerninstitute im Rahmen gemeinsamer Berufungen verbunden. Als weitere externe Partner kommen infrage: die Universität Bonn, die Universität Hohenheim, die Europa Universität Viadrina, das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) sowie die Unternehmen Xavio und Bosch. Mögliche Partner für transdisziplinäre Aktivitäten sind u. a. 365Farm-Net, die agrathaer GmbH, die Wirtschaftsförderung Brandenburg und das Institut für Landtechnik und Tierhaltung der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft.
Wie auch in anderen Themenfeldern dominieren vor allem große, global agierende Konzerne die Forschung zur Nutzung digitaler Technologien in der Landwirtschaft. Sie sind bereits dabei, ihre Produkte und deren Verwendung smart zu vernetzen, Maschinendaten, landwirtschaftliches Erfahrungswissen mit weiteren Daten (z. B. Klima, Satellitenbilder) zu Informationen zu kombinieren und Handlungsempfehlungen anzubieten. Anderseits gibt es neben diversen Agrar-Tech Start-Ups auch kleinere und mittelständische Unternehmen, die Managementprogramme für Teilaspekte entwickeln, insbesondere zu Planung und Buchhaltung der landwirtschaftlichen Betriebe. Die derzeitigen Ansätze der Digitalisierung sind stark marktorientiert und auf die landwirtschaftliche Primärproduktion fokussiert.
Das große Potenzial der Digitalisierung für die gesamte bioökonomische Wertschöpfungskette, für die Nutzung und Verbesserung von Ökosystemleistungen, für die Biodiversität und zur Verbesserung des Tierwohls wird hingegen kaum berücksichtigt. Nur bei einzelnen Produkten oder Segmenten spielen die Anforderungen der Gesellschaft und der Wertschöpfungsketten bisher eine Rolle. Ein Alleinstellungsmerkmal des vorliegenden Fallbeispiels ist die ganzheitliche Erfassung der gesamten Wertschöpfungskette. Dabei werden auch die Bereitstellung verschiedener Ökosystemleistungen
und die Biodiversität im Rahmen der sich entwickelnden Bioökonomie mit einbezogen. Das Projekt untersucht außerdem, wie sich Produktions-Ökosysteme digital erfassen und steuern und zugleich auf den gesellschaftlichen Bedarf und auf Standorteigenschaften zuschneiden lassen. Dadurch sollte es international Beachtung erlangen.Dieses Fallbeispiel soll die Produktion von Lebensmitteln und deren Verarbeitung und Verteilung bis hin zu den Konsumenten verknüpfen, transparent und steuerbar machen. Eine breite interdisziplinäre Zusammenarbeit ist dafür unabdingbar. Die aufgeführten Partner vereinen naturwissenschaftliche, verfahrenstechnische, sozio-ökonomische und ernährungsphysiologische Expertise und haben im Leibniz-Forschungsverbund Nachhaltige Lebensmittelproduktion und gesunde Ernährung bereits erfolgreich zusammengearbeitet.
Um die Bioökonomie erfolgreich nachhaltig zu gestalten, müssen die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und Systemforschung ausgeschöpft werden. Durch die Nutzung digitaler Mittel kann die Landwirtschaft die natürlichen Ressourcen schonen, Ökosystemleistungen verbessern und die Biodiversität erhöhen. Zukünftige Marktentwicklungen, Lebensstiländerungen, Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Ressourcenknappheit erfordern neue Lösungen. Dazu gehören standortangepasste Produktionssysteme für Pflanzen und Tiere, die mit einer anpassungsfähigen Steuerung versehen sind. Mithilfe digitaler Informationen scheint das realisierbar. Gleichzeitig müssen die Produktqualität und -sicherheit sowie die Umweltverträglichkeit erhalten oder sogar verbessert werden. Qualitätsindikatoren und Gesundheitsparameter sind im Produktionsprozess so früh und detailliert wie möglich zu integrieren.
Digitale Technologien ermöglichen es darüber hinaus, das Ernährungsverhalten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu erfassen und mithilfe dieser Informationen qualitativ hochwertige Lebensmittel in gewünschter Menge und zur gewünschten Zeit anzubieten. Sie schaffen die Voraussetzung dafür, dass zwei Lebensbereiche (Nahrungsmittelproduktion und Ernährung), die weitgehend nach eigenen Regeln funktionieren, sich aber erheblich wechselseitig beeinflussen, auf hohem Niveau gemeinsam wissenschaftlich betrachtet werden. Die Wirtschaftswissenschaften sprechen hier von einer Entwicklung vom Push-Markt (ein Überangebot auf den Markt drücken, da nicht bekannt ist, was benötigt wird) hin zum Pull-Markt (informationsgesteuert genau das auf den Markt ziehen, was die Konsumenten benötigen). Hierbei bilden die biologischen Vorgänge (Wachstums und Reifungsprozesse) mit ihrer zeitlichen Dynamik, ihrer externen Abhängigkeit und Selbstregulation eine Herausforderung, die in der Industrie 4.0 so nicht existiert. Erst wenn die Informationen von Produzenten, dem verarbeitenden Gewerbe, Händlern und Konsumenten, aber auch von Behörden miteinander gekoppelt werden, ist es möglich, einen informationsbasierten Interessensausgleich zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Zielen zu finden. Auf Basis dieses neuen Wissens lassen sich zudem detaillierte Forschungen durchführen und Szenarien entwickeln zu der Frage, wie Landwirtschaft, natürliche Umwelt und Gesellschaft interagieren. Eine neue wissenschaftliche Fragestellung ergibt sich auch durch den Wunsch nach kundenspezifischen Erzeugungsprogrammen: Wie lassen sich Wünsche von Konsumenten und Gesellschaft nach bestimmten Produkten und Produktionsmethoden mit den Anforderungen eines bestimmten Standorts vereinbaren?
Ein wichtiger Teilaspekt ist die Entwicklung von Rechtsgrundlagen
a) zum Gebrauch/der Verfügbarkeit der erhobenen Daten,
b) zu länderspezifischen Anforderungen und Regularien bei den entwickelten Maßnahmen und
c) zur Honorierung von nicht-vermarktbaren Resultaten.Ein klarer Rechtsrahmen ist auch Voraussetzung für innovative, datengestützte Geschäftsmodelle. Werden diese Fragen nicht beantwortet, entsteht ein erhebliches Innovationshemmnis.
Im Fokus des Fallbeispiels stehen übergreifende Fragen, die mit dem Voranschreiten der Digitalisierung bei der Erzeugung, der Verarbeitung, dem Handel und dem Konsum von Lebensmitteln auftauchen. Chancen und Risiken sollen in einem transdisziplinären Forschungsansatz untersucht werden. Dabei eröffnen sich viele Möglichkeiten, um die Nachhaltigkeit unserer Ernährung zu verbessern. Gleichzeitig bestehen aber auch Risiken und Nebenwirkungen. Die zahlreichen Einzelanwendungen sind notwendige Voraussetzung, aber nicht Gegenstand des Fallbeispiels. Das Thema ist auch deshalb hochkomplex, weil die meisten Systemgrößen sowohl abhängige als auch unabhängige Variablen beinhalten. Angesichts dessen bieten moderne Methoden der Datenwissenschaften Möglichkeiten, zu einem neuen Verständnis der Lebensmittelproduktions- und -ernährungssysteme zu gelangen. Dieses systemische Wissen kann dazu genutzt werden, die Produktionsketten in Summe nachhaltiger zu machen. Die Einbeziehung aller Akteure der Wertschöpfungskette ist dabei unbedingt notwendig.
Um nicht an der Komplexität und Selbstregulation des Systems zu scheitern, sollen empirische Analysen und Mustererkennungen mithilfe moderner Methoden der Datenwissenschaften im Wechselspiel mit den deterministischen Beschreibungen kausaler Zusammenhänge gemäß des domänenspezifischen Wissensstands kombiniert und analysiert werden. Konkret werden auf der produktionsorganisatorischen Ebene Szenarien entwickelt und aus ökologischer, ökonomischer und sozialer Sicht auf Betriebe und deren Wertschöpfungskette übertragen. Es wird analysiert, welche Informationen wie an die Konsumenten weitergeleitet werden können, welche Rückwirkung auf die Umwelt sich durch Änderungen im Konsumentenverhalten ergeben und ob sich potenzielle Umweltverbesserungen im Konsumentenverhalten niederschlagen. Auf der technischen Ebene werden Monitoringkonzepte zur Informationserfassung entlang der Wertschöpfungskette entwickelt. Darüber hinaus werden Indikatoren erarbeitet, mit denen sich relevante und durch Sensoren erfassbare Umweltparameter zu Ökosystemleistungen, Biodiversität und Tierwohl abbilden lassen.
Die Ergebnisse des Fallbeispiels eröffnen folgende Perspektiven:
a) Ein neues Verständnis zur nachhaltigen Gestaltung der Lebensmittelerzeugung wird gefördert.
b) Wissensbasierte Handlungsempfehlungen für alle Akteure in der Wertschöpfungskette werden entwickelt.
c) Neue Methoden zur Erforschung komplexer Systeme mit starken Abhängigkeiten werden erprobt.
d) »Digitalisierungslücken« im Handlungsfeld Landwirtschaft — Umwelt — Ernährung werden identifiziert, um sie mit gezielter Forschung schließen zu können.Dieses Fallbeispiel soll auch mit dem Ziel umgesetzt werden, die Forschungsergebnisse erfolgreich in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu transferieren.
Kontakt
Leibniz- Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF), Müncheberg
T 033432 82 207
belks@zalf.de
Sonoko Dorothea Bellingrath-Kimura ist Co-Leiterin des Programbereichs 2 Landnutzung und Governance des Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e.V. und hat die Professur Landnutzungssysteme an der Humboldt Universität zu Berlin inne. Sie hat lange zu innovativen Landnutzungssystemen weltweit geforscht und ist aktiv in nationalen und internationalen Netzwerken. Sie hat mehrere Projekte geleitet, unter anderem das Projekt »Digitale Wissens- und Informationsverarbeitung in der Landwirtschaft«.
